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SAINT-POL-ROUX |
Hans-Jürgen Heinrichs
über DIE STATIONEN DER PROZESSION II (1997)ausgestrahlt beim Saarländischen Rundfunk und Radio Bremen im April und Juli 98 "Plifff! Plaff! Pluff!" — vielleicht die erstaunlichste Zelle in einem Werk, dessen Anspruch nicht weniger ist als ins Absolute vorzudringen und die Schönheit als Verherrlichung der Wahrheit durchzuexerzieren. Ja, die in die höchsten Sphären des Geistigen und Sensuellen davoneilende, in den Rhythmus verliebte Dichtung des 1862 bei Marseille geborenen und 1940 in der Bretagne verstorbenen Saint‑Pol‑Roux hat, vielleicht mehr als jedes andere Werk dieses Jahrhunderts, den Charakter eines Exerzitiums und einer Prozession. |
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Die individuelle. Erfahrung, die Bedingungen des Realen und die universale Geltung der Erscheinungen im dichterischen Ausdruck zu vereinen — dies war das Anliegen des von Apollinaire und Breton als "Meister des Bildes" verehrten und von Mallarme' als "mein Sohn" bezeichneten Enthusiasten des Wortes; seinen Phantasien und Phantasmen hat er in seinen Prosagedichten und Essays (vor allem in der großartigen Res Poetica und in den Traditionen der Zukunft) eine unverwechselbare Gestalt verliehen. Auch wenn uns der von ihm angeschlagene hohe Ton (der sich ständig in Fühlung mit dem Genialischen und Göttlichen, dem Sinnlichen und Naturschönen weiß) zuweilen etwas entrückt erscheinen mag und ihn zeitgenössischer Dekor, manch Wortgemurmel und Seelenflitter umgibt, so kann man sich doch kaum der Kraft dieser Poesie und der dem Pathos eigenen Erkenntnismöglichkeiten entziehen. Mit dem nun vorliegenden Band (im Rahmen einer Gesamtausgabe, die von einem kleinen Verlag am Rande der Metropolen, dort, wohin sich auch Saint‑Pol‑Roux nach seinem Paris‑Aufenthalt zurückgezogen hatte, realisiert wird) hat der von der Kritik eher schlecht behandelte, als "Symbolist" abklassifizierte Dichter ein weiteres Mal versucht, den Lebensund Leidensweg, die Prozession, aus eigener Erfahrung und in der Ausweitung bis ins Absolute darzustellen. Zwischen "Pliff! Plaff! Pluff!" und den Altären, zwischen dem Alltäglichsten und Heiligsten zieht der "Ziseleur des Wortes" (Max Jacob) die Fäden. Den Vögeln verleiht er neue, ganz vom Anschauen gesättigte Namen: "Zaunkönig: Säuglingsauge! Meise: Mädchenauge! Grasmücke: Knabenauge! Prachtfink: Infantinnenauge! Buchfink: Pagenauge! Hänfling: Zigeunerinnenauge! Spatz: Lausbubenauge!" Saint‑Pol‑Roux schreibt über das kommunizierende Dunkel, über Pariser Ziegen und die zwei Schlangen, die zuviel Milch tranken, über den Unrat und über den Diamant die Tränengießkanne und den Stundenausreißer, über Spontaneitäten, Zärtlichkeiten und die Emanzipation des Wortes ‑ und singt Litaneien an das Meer. Überhaupt ist seine Dichtung in erster Linie Gesang, Hymnus: auf die Vereinigung aller Sinne. Gelegentlich gibt sich der Dichter (diese "Apotheose der ganzen Menschheit") auch ganz verspielt und witzig (wenn er etwa die Geschichte einer Kuh erzählt, die eines Morgens in einer Mülltonne,‑geboren wurde, "eines grellen Morgens bei Nordwind, als der Winter im Hemd schlotterte ... geboren aus dem fetten Kuß, den der Auswurf eines Wucherers und die Warze eines alten Notars sich dort gaben"); und zuweilen wird dieser Pathetiker zum geradezu realistischen Erzähler, wenn er etwa das Seetangschneiden in seiner Wahlheimat, der Bretagne, minutiös beschreibt. "Gestern baggerte der Seemann im Meer, heute erntet der Bauer an der Küste, die' sein Feld säumt oder, wenn sein Feld landeinwärts liegt, den Küstenstreifen, der ihm zugeteilt ist, denn der Tang dient hier wie die Alge als wichtige natürliche Nahrung des Bodens, den er fruchtbar macht und dessen Energie er durch sein Jod erneuert. Der Seetang am Meeresgrund, genannt Rotalgen (bizin ruz), eine eher johannisbrotfarbene Abart, hat schleimige Verzweigungen mit überraschend kunstvollen Blättern —, der Ufertang, genannt Gelbtang (bizin melen), zieht den Felsen seine olivenölfarbene Mähne über, ohne den fantastischen Tang zu vergessen, der sich über die Klippen von der Cormorandière bis zur Grenouille hinzieht, eine Pflanze mit riesigen. Fängen, dicken gummiartigen Stiefeln und krakenförmigen Ranken mit märchenhafter Zeichnung, ein wilder Tang, den man Dickkopf oder auch Strolch nennt (bizin kalkenn) und der im Frühling geerntet werden darf. Ob am Ufer oder auf dem Grund, die Algen sind mit Widerhaken am Fels festgewachsen und nicht mit Wurzeln, wenn sie reif sind, lösen sich diese Algen, die einen werden gleich aufgeharkt die anderen geschnitten. Dagegen die Seealgen im engeren Sinne (bizin glaz), der Grüntang, werden angeschwemmt vom Meer, das ihn Welle für Welle aus der Weite herbeiwälzt." In der Umgebung der
Fischer und Bauern wird Saint‑Pol‑Roux Sprache ganz schlicht, aufs
Detail konzentriert; bemüht, Handlungsabläufe zu beschreiben und die Atmosphäre
der Arbeitswelt wiederzugeben. Aber auch hier folgt er seinem Gespür für die
lautlichen Sensationen in den
Wörtern, selbst dann, wenn es sich um die alltäglichsten Namen der Leute und
die ihnen selbstverständlichen Begrüßungen handelt.
In einem der schönsten Texte dieser Prosagedichte, Szenen und Impressionen (deren Zusammenhalt der Wunsch nach Harmonie ist), treten weidende Ziegen in Paris (!) als Protagonisten des Zerfalls der universalen Harmonie auf. "Sie weideten, die Armen, sie weideten die grünen, rosa, blauen, gelben Plakate, die der Wind losgerissen hatte: Zirkusplakate, Buniscaféplakate, Wahlplakate, Quacksalberplakate, auf denen Fläschchen und Tiegel einen an der Nase herumführen, Kandidaten sich spreizen, Clowns grimassieren, Regenbogendirnen Revolutionslieder trällern. Kein Zweifel. Die einfältigen Tiere, im Laufe der Zeit von der Umgebung pervertiert, bildeten sich ein ‑ ebenso wie die Menschen sich einbilden, sie genössen die Natur in den subtilen Nachbildungen der modischen Feinkosthändler ‑ die Ziegen, während sie die farbigen Plakate fraßen, bildeten sich ein ‑ sagte ich —, daß sie ganz einfach Gras fraßen, Goldregen, Thymian, Geißblatt, Kornblumen, Löwenzahn ... " Um die Jahrhundertwende
geschrieben, gehörten "Die Stationen
der Prozession", zusammen mit den poetologischen Essays und
Manifesten, schon bald zu den anregendsten Werken einer neuen Generation von
Schriftstellern und Grenzgängern, die, wie es der Ethnologe Victor Segalen
ausdrückt, in diesem Werk "Schutz fanden", während sie Rimbaud
folgten. "Ah, was für ein
Geniestreich, welche Freude,‑ welcher Schmerz ..., in alle geistigen
Kammern vorzudringen, die düsteren Schwellen des schlummernden Gottes zu
überschreiten“ rief Paul Valéry aus. Und die Surrealisten sahen in dem
großen Einzelgänger und lyrischen Dichter, diesem "Ideorealisten"— jenseits einer plump behaupteten Realität und abstrakt gestalteten Idealität ‑
ihr Vorbild. Wer sonst traute den Bildern und Symbolen eine solche Kraft züi!
Wer war mehr Dichter und Genie ("Gott gewordener menschlicher Freimut")
als er! Dalí und Breton kommen einem plötzlich nicht mehr als Vorläufer, eher
als Schüler vor. Saint‑Pol‑Roux seinerseits war enttäuscht von den
lauten, sich selbst inszenierenden Surrealisten. Er ließ sich nicht von ihnen
vereinnahmen, trotz des großen Banketts, das sie ihm zu Ehren gaben. Er schlich
sich davon, setzte mit seinem Kahn "ans
andere Ufer" über und kommunizierte wieder mit der Taube, dem Raben, dem
Pfau ...
Zurück bleibt von diesem "Ideorealisten" und Verkünder des "Ideorealisators" (zur Herstellung des dreidimensionalen Films), von diesem Besessenen des Geheimnisses und des Mysteriums das Bild eines Wortekstatikers und eines Visionärs, der von der Zukunft eine "neue Vernunft" forderte: "Unser altes Vemunftsystem ist verkalkt. Geschmeidige Venen herbeischaffen. Tabula rasa, tabula nova. Karawanen in die 'unbekannte Welt’ schicken, sie entdecken, und entdeckt man sie nicht, sie' erschaffen, sie erfinden ..., sie mit Bildern übersäen ... Die Einbildungskraft geht der Wissenschaft voraus, wie sollte sie nicht einer Übernaturalisierung der neuen Gesellschaft vorausgehen." Diese an der Vorwegnahme des Visionären orientierte Haltung nannte er "Surnaturalismus". Der Metaphorik Paul Eluards vergleichbar, der unter dem Eindruck des sich zuspitzenden spanischen Bürgerkrieges in dem Gedicht "November 1936" schrieb: "Der Vernunft verleihe schweifende Flügel / wollte Saint‑Pol‑Roux den Menschen "aufrichten", ihn "magnifizieren", im Wort "das Geistige bannen". Aber es war nicht nur das Wort das ihn faszinierte. In der Zeit da die Bilder erst laufen lernten, wurde er zum begeisterten Cineasten, der die bewegten Bilder liebte und dem lebendigen Kino zutraute, den Weg in eine zukünftige Welt zu weisen: "Es kann die herrlichste Erfindung werden, bis jetzt ist es nichts weiter als das Aushängeschild eines Frisörs." Aus dem Französischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Ute EckelkampAlle Rechte für diesen
Text bei Hans-Jürgen Heinrichs
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