SAINT-POL-ROUX
Werkausgabe in
16 Bänden
herausgegeben von
Joachim Schultz und Rolf A. Burkart
Manoir de Coecilian, Camaret sur Mer
Bretagne/France
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Saint-Pol-Roux und
André Breton
Spuren einer
Bekanntschaft
von Rolf A. Burkart
Am 1. September 1923 schrieb Breton im Alter von 27 Jahren
den ersten Brief an Saint-Pol-Roux, in dem er ihm seine Bewunderung dafür
ausspricht, und sich darüber empört, daß dieser so in
Vergessenheit geraten sei. Er beabsichtige, ,einen ersten Artikel für die
Wiedergutmachung" zu schreiben und wünscht, ihn zu besuchen. Bereits
am 18. September bedankt er sich für SPRs Gastfreundschaft und erneuert
sein Versprechen, sich ganz dafür einzusetzen, daß die
überfällige Wiedergutmachung und Anerkennung seines Schaffens
vorangetrieben würde. Im gleichen Brief bittet er den Dichter, seiner
Widmung für Clair de
Terre" zuzustimmen:
Dem großen Dichter
SAINT-POL-ROUX
Allen, die wie er sich
das GROSSARTIGE [MAGNIFIQUE*]
Vergnügen leisten, sich vergessen zu lassen.
Hier die Antwort auf Bretons Brief vom 18. September, in der er erneut seine
Gedanken über die primäre und sekundäre Kunst ausführt. Das
Thema, die Musik habe das WORT (Verbe) vom angestammten Platz verdrängt,
beschäft ihn schon seit einigen Jahren. Ausführlich geht er darauf in RES POETICA" ein. Manche Worte des Briefes sind unleserlich,
aber der Sinn bleibt im Großen und Ganzen erhalten.
Mein lieber Dichter,
Ihr ausgezeichneter Brief hat bei Divine und ihrem Vater, betrübt durch
die Krankheit der Mama, den Zauber Ihres von Ihrer hübschen FEE
bereicherten Besuchs wieder aufleben lassen. Wir haben uns, in Wahrheit, keine
großartigen Sachen gesagt, aber die schweigenden Hälften sind immer
noch voller Beredsamkeit. Zwei Schätze, der eine dem anderen Seite an
Seite, brauchen sich nicht taxieren sie kennen sich, sie sind. Sie aber sind
die Jugend, ich das Alter. Die Fülle, wie für mich gemacht, wie sehr
ich mir sehnsüchtig das Ihrige des Überflußes von Neuem
herbeiwünsche, das schon den Bindfaden kappt, um in den Sack zu
spähen. Prangern Sie nicht allzu sehr die Ungerechtigkeit in bezug auf
mich an. Meine Einsamkeit -- habe ich sie nicht selbst gewählt, ich bin
der glückliche Schuldige dafür. Was meine Freunde betrifft, sie alle
waren gut zu mir. Royère unter ihnen, der im vergangenen Jahr ein unter
ihnen verschafftes Ehrendarlehen (?) an mich adressierte (?) von rund
vierzehnhundert heilsamen Francs. Was Sie Ungerechtigkeit nennen -- die es
nicht im geringsten ist - und was ich als Spätlese bezeichnen würde,
resultiert aus dem, was ich in einem Entwurf im voraus erarbeitet habe. So wie
andere bei den Traditionen der Vergangenheit verweilen, habe ich die
Traditionen der Zukunft* vorbereitet, durch mein [ ] des Genie (die Welten als
Trauben), ich habe im Fortschritt in die Zukunft gelebt. Deshalb wird die
jetzige Jugend, mit Billardkugeln an der Schwelle zur Zukunft spielend, mich
vielleicht im Fundament entdecken, von wo aus sie eindringt in den guten,
alten,weißhaarigen Mann, der die Tür angelehnt ließ. Merken
Sie sich, daß es viele dieser guten, weißhaarigen Menschen gibt,
doch ich muß einer von ihnen sein, O blonde Jugend. Jerichotisiert* ihn
also bitte nicht zu sehr, denn er stürzte ein, da er doch wahrscheinlich
Schnee ist, kein Marmor. Mein Aufgabe ist aufrichtig und religiös gewesen,
das ist alles.
Es ist die Furcht und die Liebe zur Schönheit die (durchgestrichen: hat mich aufbrechen lassen .Weiter nichts) meine Reisekoffer gepackt hat. Ich
lebe in ihrem Kreis, gleich Merlin in dem von Viviane. Da ich die Stille
gewählt habe, könnte ich kein Neidhammel sein. Ich akzeptiere mein
kleines persönliches Schicksal. Was ich nicht akzeptiere, das ist meine
wirtschaftliche Not, diese Kalkschaufel meiner letzten Jahre, die mich davon
abhält, meine Familie zu schmücken und mein Leben zu signieren: darin
wohnt mein einziger Schmerz (durchgestrichen: und meine Kette, mein
Grabgewölbe),wie ich Ihnen persönlich anvertraue. Lassen wir das
(durchgestrichen: diese Viper). Habe ihnen ,Montjoie" zugesandt und
Ihnen eine kurz Aufstellung von Papieren gemacht, die sie verwenden
können, wenn Sie mich ein wenig kennenlernen möchten. Einst habe ich
viel geschrieben, hier und da, ich weiß gleichsam nicht mehr wo. Die
Aufgabe der jungen Dichter ist nunmehr beachtlich, was ich Ihnen erzählen
wollte. Zuerst einmal müßte man noch einmal anfangen bei dem Fehler
von Orpheus. Seit ihm hat sich das WORT verloren, das vollständige, totale
WORT. Bedrückt darüber, daß er unfähig war, seinen Schmerz
in WORTEN auszudrücken, hat Orpheus die Materie in Anspruch genommen,
Schilfrohre, Därme, Schildkrötenpanzer,und sich darin inkarniert. Er
hat nicht mehr gesprochen, sondern ließ die Materie sprechen: daher
rührt die Musik, diese Entartung des WORTES. Zwar wurde versucht, den
anfänglichen Fehler zu verbessern, besonders Aischylos, doch damit war nur
teilweise etwas gewonnen. Eine gute Gelegenheit hat sich mit Josquin von der
Schlacht von Marignan ergeben, Monteverdi, Rameau, aber unsere großen
Dichter wagten nichts, und sind die großen Diener* von Louis XIV
geblieben. Die Wahrheit ist nicht in der toten Harfe (Instrument, Musik)
sondern in der lebendigen Harfe (der Mensch, das WORT). All dies sei hier
verkürzt gesagt. Schon im Jahr 1891 habe ich in der Umfrage von Jules
Huret* von der Harfe -- mit den fünf -- Sinnen gesprochen, die
übrigens im Simultaneïsmus sei. Sehen Sie, es gibt nur 2 primäre
Künste: der Mensch wird geboren, seine Form (Skulptur), dann Wimmern* (das
WORT). Dann die sekundären Künste, der Mensch hört die Elemente
und will sie wiedergeben (die Musik), er sieht das Schauspiel und will...
(Malerei), usw... Der Fehler von Orpheus stufte das WORT auf den zweiter Rang
herab, während er die Musik auf den ersten hob.
Dies ist also der unermeßliche Irrtum der SCHöNHEIT, zumindest zum Nachteil der SCHöNHEIT. Das WORT ist nicht eins, es ist
vielfach. Alles ist in ihm. Aber ich schwätze ohne Reihenfolge, und
verstehen sie mich überhaupt ? (am Rand hinzugefügt: Nein: der
Dichter ist kein Virtuose, er ist ein Orchester. Genauso habe ich das
zukünftige Schauspiel mit meinem lebendigen Orchester vorhergesehen.) Die Wortlosen sind unerschöpflich wenn ihre Sprache sich
emanzipert. Lassen Sie mich in meine Einsamkeit zurückkehren, wo ich dazu
kam, noch vor Feuerstein und Ambra, die Knochen bloßzulegen, -- - bis zur
Morgendämmerung. Sehen Sie, wir sind Gefangene der VERNUNFT. Was uns
befreit, das ist die EINBILDUNGSKRAFT, die wirkliche menschliche Kraft. Diese
Idee hat mich wahrscheinlich zur Wiege der EINBILDUNGSKRAFT geführt. Die
Bretagne ist die EINBILDUNGSKRAFT der Welt, habe ich irgendwo gesagt.Nicht
daß ich mich hielte an diese von den Stratifikationen* der Menschenalter
und der Völker überlagerte Einbildungskraft; nicht jene
anfängliche Einbildungskraft, von der die Schmöker unserer
Umgestalter* vollgepfropft sind, sondern die primitive Einbildungskraft, die
als flehentliche Bitte in jedem Gehirn vorhanden ist. Laßt diese Gehirne
reifen, laßt sie bersten -- die ganz neue Minerva wird hervorschnellen.
So wird sich die Welt nicht mehr wiederholen. Es wird zu jedem Moment
Morgenröten geben, es wird die jungfräuliche Ära des Genies
sein. Die Welt wird bersten von Talent.
Mit Freude empfängt Divine Neuigkeiten von Madame Breton.Die Jugend meiner
Tochter langweilt sich hier sehr, das ist verständlich, aber ich kann ihr
keine Reisen bieten, die doch so nötig wären für ihre Bildung,
ihre Neugierde, ihr Herz...
Der erste Schritt zu dieser geplanten ,Wiedergutmachung" war eine
Sondernummer von ,Nouvelles Littéraires" (Mai 1925), die SPR
gewidmet sein sollte. Die Artikel für diese Hommage stammten von: Aragon,
Vitrac, Desnos, Leiris, Peret, Eluard, Baron und Breton. Letzterer bezeichnete
SPR in seinem Artikel ,Meister des Bildes" als ,den einzigen,
authentischen Vorläufer der als Moderne bezeichneten Bewegung". Die
Bemühungen der Surrealisten gipfelten in jenem Parisbesuch Saint-Pol-Rouxs
von Mai bis Juli 1925, bei dem er die beiden Vorträge über die
Einbildungskraft hielt. Auch der Artikel ,Wirklich allein ist man nur in der
Menge" [vgl. ,Der Schatz des Menschen"] wurde zu diesem Anlaß
geschrieben.
Am 2. Juli 1925 fand schließlich das Bankett zu Ehren von
Saint-Pol-Roux in der Closerie de Lilas statt, das mit einem Eklat in die
Fußnoten der Literaturgeschichte Einzug hielt... Soupault im Kronleuchter
hängend, für die Surrealisten ein willkommener Skandel -- von SPR ist
längst nicht mehr die Rede.
Vor diesem Hintergrund ist folgender im Nachlaß aufgefundener Text zu
lesen, den Saint-Pol-Roux 1925 in Paris verfaßte:
Vierzehn mal Vierzehn
Weshalb so viele falsche Tränen über diesen verkannten Dichter?
Wollt Ihr denn, daß mit Krethi und Plethi er verkehrt
An der Front steht von eurer Geschichte
Statt verborgen lebend am Ausläufer eines massigen Vorgebirgs,
Die goldenen Schiffe des UNBEKANNTEN vorüberziehen sehen?
Meine Herren, für die vielfache Huldigung anerkannt zu sein,
Muß uns dafür eine mahnende Trompete vorangehen
Als Zeugnis eines hohl und herdenhaften Siegs?
Und wenn es mir selbst gefällt, bekannt zu sein oder es nicht zu sein!
Wenn es mir gar gefiele, im Schatten eine subtile Aufgabe zu vollenden
Und schließlich den Mut zu haben, Euch feige zu erscheinen,
Macht ihr Euch dann dran mir den STERN zu entreißen, wo schüchtern
ich beiße?
Ach! Gnade, sämtliche Plätze unaufhörlich ursupierend,
Stopft Euch voll mit Ruhm beim Bankett, frei von Gewissensbissen:
dorthin werde nicht ich kommen und mich niederlassen, bevor ihr gestorben
seid!
Paris,1925
(vorläufige, wörtliche Übersetzung: Rolf A. Burkart)
Anmerkungen:
* Beiname von Saint-Pol-Roux: --
,Le Magnifique"
* Traditionen der Zukunft, eine häufig verwendete Formel von SPR, cf. Bd.6
Der Werkausgabe mit gleichlautendem Titel
* Wortschöpfung: ,jérichotez" -- Verbbildung aus dem Jericho
* Doppelsinn: valets bedeutet sowohl Diener/Bedienstete wie auch ,Bube"
(im Kartenspiel)
1891 von Jules Huret veranstaltete ,Enquête sur l'évolution
littéraire", die SPR mit seinem Manifest des ,Magnifizismus"
beantwortete.
* SPR greift hier, gewiß nicht ohne Absicht, auf das französische
Verb ,vagir" zurück, das dem Wortstamm von ,vagin" (Vagina)
entlehnt ist.
* Schichtungen (Begriff aus der Geologie), auch im Französischen als
Fremdwort benutzt.
* Wortschöpfung: ,remanieurs": remanier = immer wieder zur Hand
nehmen + betasten, umarbeiten, umbrechen (Layout)].
DAS AUSSCHLIESSLICHE COPYRIGHT FÜR
DIESEN TEXT LIEGT BEIM AUTOR UND BEIM VERLAG ROLF A. BURKART!
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