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SAINT-POL-ROUX
Werkausgabe in
16 Bänden

herausgegeben von
Joachim Schultz und Rolf A. Burkart



Manoir de Coecilian, Camaret sur Mer
Bretagne/France



EDITIONSPLAN

Bd. 1 VOM MAGNIFIZISMUS ZUM IDEOREALISMUS

DIE STATIONEN DER PROZESSION

Bd.2 I. DIE ROSE UND DIE DORNEN AUF DEM WEG

Bd.3 II. VON DER TAUBE ZUM RABEN ÜBER DEN PFAU

Bd 4 III DIE ZAUBERSTÜCKE DER PHANTASIE

Bd. 5 DIE DAME MIT
DER SENSE

Bd.6 DIE TRADITIONEN DER ZUKUNFT

Bd.7 DER AUSFLUG

Bd. 8 TABLETTEN

Bd. 9 DIE TRAGIK DES MENSCHEN I und II

Bd. 10 DIE VERKLÄRUNG DES KRIEGES

Bd. 11 DER SCHATZ DES MENSCHEN

Bd. 12 RES POETICA oder DIE REPUBLIK DER POESIE

Bd. 13 IDEOREALITÄTEN

Bd. 14 GESCHWINDIGKEIT

Bd. 15 LEBENDIGES KINO

Bd. 16 BRIEFWECHSEL
SPR / VICTOR SEGALEN


weitere Infos:

LEBENSDATEN 

DER IDEOREALISATOR SAINT-POL-ROUX - „Der sanfte Avantgardist“
von Joachim Schultz


PRESSESTIMMEN
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Amdré Breton

André Breton


Saint-Pol-Roux und André Breton

Spuren einer Bekanntschaft

von Rolf A. Burkart

 

Am 1. September 1923 schrieb Breton im Alter von 27 Jahren den ersten Brief an Saint-Pol-Roux, in dem er ihm seine Bewunderung dafür ausspricht, und sich darüber empört, daß dieser so in Vergessenheit geraten sei. Er beabsichtige, ,einen ersten Artikel für die Wiedergutmachung" zu schreiben und wünscht, ihn zu besuchen. Bereits am 18. September bedankt er sich für SPRs Gastfreundschaft und erneuert sein Versprechen, sich ganz dafür einzusetzen, daß die überfällige Wiedergutmachung und Anerkennung seines Schaffens vorangetrieben würde. Im gleichen Brief bittet er den Dichter, seiner Widmung für „Clair de Terre" zuzustimmen:

„Dem großen Dichter
SAINT-POL-ROUX
Allen, die wie er sich
das GROSSARTIGE [MAGNIFIQUE*]
Vergnügen leisten, sich vergessen zu lassen.


Hier die Antwort auf Bretons Brief vom 18. September, in der er erneut seine Gedanken über die primäre und sekundäre Kunst ausführt. Das Thema, die Musik habe das WORT (Verbe) vom angestammten Platz verdrängt, beschäft ihn schon seit einigen Jahren. Ausführlich geht er darauf in „RES POETICA" ein. Manche Worte des Briefes sind unleserlich, aber der Sinn bleibt im Großen und Ganzen erhalten.


Mein lieber Dichter,

Ihr ausgezeichneter Brief hat bei Divine und ihrem Vater, betrübt durch die Krankheit der Mama, den Zauber Ihres von Ihrer hübschen FEE bereicherten Besuchs wieder aufleben lassen. Wir haben uns, in Wahrheit, keine großartigen Sachen gesagt, aber die schweigenden Hälften sind immer noch voller Beredsamkeit. Zwei Schätze, der eine dem anderen Seite an Seite, brauchen sich nicht taxieren sie kennen sich, sie sind. Sie aber sind die Jugend, ich das Alter. Die Fülle, wie für mich gemacht, wie sehr ich mir sehnsüchtig das Ihrige des Überflußes von Neuem herbeiwünsche, das schon den Bindfaden kappt, um in den Sack zu spähen. Prangern Sie nicht allzu sehr die Ungerechtigkeit in bezug auf mich an. Meine Einsamkeit -- habe ich sie nicht selbst gewählt, ich bin der glückliche Schuldige dafür. Was meine Freunde betrifft, sie alle waren gut zu mir. Royère unter ihnen, der im vergangenen Jahr ein unter ihnen verschafftes Ehrendarlehen (?) an mich adressierte (?) von rund vierzehnhundert heilsamen Francs. Was Sie Ungerechtigkeit nennen -- die es nicht im geringsten ist - und was ich als Spätlese bezeichnen würde, resultiert aus dem, was ich in einem Entwurf im voraus erarbeitet habe. So wie andere bei den Traditionen der Vergangenheit verweilen, habe ich die Traditionen der Zukunft* vorbereitet, durch mein [ ] des Genie (die Welten als Trauben), ich habe im Fortschritt in die Zukunft gelebt. Deshalb wird die jetzige Jugend, mit Billardkugeln an der Schwelle zur Zukunft spielend, mich vielleicht im Fundament entdecken, von wo aus sie eindringt in den guten, alten,weißhaarigen Mann, der die Tür angelehnt ließ. Merken Sie sich, daß es viele dieser guten, weißhaarigen Menschen gibt, doch ich muß einer von ihnen sein, O blonde Jugend. Jerichotisiert* ihn also bitte nicht zu sehr, denn er stürzte ein, da er doch wahrscheinlich Schnee ist, kein Marmor. Mein Aufgabe ist aufrichtig und religiös gewesen, das ist alles.

Es ist die Furcht und die Liebe zur Schönheit die (durchgestrichen: hat mich aufbrechen lassen .Weiter nichts) meine Reisekoffer gepackt hat. Ich lebe in ihrem Kreis, gleich Merlin in dem von Viviane. Da ich die Stille gewählt habe, könnte ich kein Neidhammel sein. Ich akzeptiere mein kleines persönliches Schicksal. Was ich nicht akzeptiere, das ist meine wirtschaftliche Not, diese Kalkschaufel meiner letzten Jahre, die mich davon abhält, meine Familie zu schmücken und mein Leben zu signieren: darin wohnt mein einziger Schmerz (durchgestrichen: und meine Kette, mein Grabgewölbe),wie ich Ihnen persönlich anvertraue. Lassen wir das (durchgestrichen: diese Viper). Habe ihnen ,Montjoie" zugesandt und Ihnen eine kurz Aufstellung von Papieren gemacht, die sie verwenden können, wenn Sie mich ein wenig kennenlernen möchten. Einst habe ich viel geschrieben, hier und da, ich weiß gleichsam nicht mehr wo. Die Aufgabe der jungen Dichter ist nunmehr beachtlich, was ich Ihnen erzählen wollte. Zuerst einmal müßte man noch einmal anfangen bei dem Fehler von Orpheus. Seit ihm hat sich das WORT verloren, das vollständige, totale WORT. Bedrückt darüber, daß er unfähig war, seinen Schmerz in WORTEN auszudrücken, hat Orpheus die Materie in Anspruch genommen, Schilfrohre, Därme, Schildkrötenpanzer,und sich darin inkarniert. Er hat nicht mehr gesprochen, sondern ließ die Materie sprechen: daher rührt die Musik, diese Entartung des WORTES. Zwar wurde versucht, den anfänglichen Fehler zu verbessern, besonders Aischylos, doch damit war nur teilweise etwas gewonnen. Eine gute Gelegenheit hat sich mit Josquin von der Schlacht von Marignan ergeben, Monteverdi, Rameau, aber unsere großen Dichter wagten nichts, und sind die großen Diener* von Louis XIV geblieben. Die Wahrheit ist nicht in der toten Harfe (Instrument, Musik) sondern in der lebendigen Harfe (der Mensch, das WORT). All dies sei hier verkürzt gesagt. Schon im Jahr 1891 habe ich in der Umfrage von Jules Huret* von der Harfe -- mit den fünf -- Sinnen gesprochen, die übrigens im Simultaneïsmus sei. Sehen Sie, es gibt nur 2 primäre Künste: der Mensch wird geboren, seine Form (Skulptur), dann Wimmern* (das WORT). Dann die sekundären Künste, der Mensch hört die Elemente und will sie wiedergeben (die Musik), er sieht das Schauspiel und will... (Malerei), usw... Der Fehler von Orpheus stufte das WORT auf den zweiter Rang herab, während er die Musik auf den ersten hob.

Dies ist also der unermeßliche Irrtum der SCHöNHEIT, zumindest zum Nachteil der SCHöNHEIT. Das WORT ist nicht eins, es ist vielfach. Alles ist in ihm. Aber ich schwätze ohne Reihenfolge, und verstehen sie mich überhaupt ? (am Rand hinzugefügt: Nein: der Dichter ist kein Virtuose, er ist ein Orchester. Genauso habe ich das zukünftige Schauspiel mit meinem lebendigen Orchester vorhergesehen.) Die Wortlosen sind unerschöpflich wenn ihre Sprache sich emanzipert. Lassen Sie mich in meine Einsamkeit zurückkehren, wo ich dazu kam, noch vor Feuerstein und Ambra, die Knochen bloßzulegen, -- - bis zur Morgendämmerung. Sehen Sie, wir sind Gefangene der VERNUNFT. Was uns befreit, das ist die EINBILDUNGSKRAFT, die wirkliche menschliche Kraft. Diese Idee hat mich wahrscheinlich zur Wiege der EINBILDUNGSKRAFT geführt. Die Bretagne ist die EINBILDUNGSKRAFT der Welt, habe ich irgendwo gesagt.Nicht daß ich mich hielte an diese von den Stratifikationen* der Menschenalter und der Völker überlagerte Einbildungskraft; nicht jene anfängliche Einbildungskraft, von der die Schmöker unserer Umgestalter* vollgepfropft sind, sondern die primitive Einbildungskraft, die als flehentliche Bitte in jedem Gehirn vorhanden ist. Laßt diese Gehirne reifen, laßt sie bersten -- die ganz neue Minerva wird hervorschnellen. So wird sich die Welt nicht mehr wiederholen. Es wird zu jedem Moment Morgenröten geben, es wird die jungfräuliche Ära des Genies sein. Die Welt wird bersten von Talent.

Mit Freude empfängt Divine Neuigkeiten von Madame Breton.Die Jugend meiner Tochter langweilt sich hier sehr, das ist verständlich, aber ich kann ihr keine Reisen bieten, die doch so nötig wären für ihre Bildung, ihre Neugierde, ihr Herz...


Der erste Schritt zu dieser geplanten ,Wiedergutmachung" war eine Sondernummer von ,Nouvelles Littéraires" (Mai 1925), die SPR gewidmet sein sollte. Die Artikel für diese Hommage stammten von: Aragon, Vitrac, Desnos, Leiris, Peret, Eluard, Baron und Breton. Letzterer bezeichnete SPR in seinem Artikel ,Meister des Bildes" als ,den einzigen, authentischen Vorläufer der als Moderne bezeichneten Bewegung". Die Bemühungen der Surrealisten gipfelten in jenem Parisbesuch Saint-Pol-Rouxs von Mai bis Juli 1925, bei dem er die beiden Vorträge über die Einbildungskraft hielt. Auch der Artikel ,Wirklich allein ist man nur in der Menge" [vgl. ,Der Schatz des Menschen"] wurde zu diesem Anlaß geschrieben.
Am 2. Juli 1925 fand schließlich das Bankett zu Ehren von Saint-Pol-Roux in der Closerie de Lilas statt, das mit einem Eklat in die Fußnoten der Literaturgeschichte Einzug hielt... Soupault im Kronleuchter hängend, für die Surrealisten ein willkommener Skandel -- von SPR ist längst nicht mehr die Rede.

Vor diesem Hintergrund ist folgender im Nachlaß aufgefundener Text zu lesen, den Saint-Pol-Roux 1925 in Paris verfaßte:




Vierzehn mal Vierzehn


Weshalb so viele falsche Tränen über diesen verkannten Dichter?
Wollt Ihr denn, daß mit Krethi und Plethi er verkehrt
An der Front steht von eurer Geschichte
Statt verborgen lebend am Ausläufer eines massigen Vorgebirgs,
Die goldenen Schiffe des UNBEKANNTEN vorüberziehen sehen?

Meine Herren, für die vielfache Huldigung anerkannt zu sein,
Muß uns dafür eine mahnende Trompete vorangehen
Als Zeugnis eines hohl und herdenhaften Siegs?
Und wenn es mir selbst gefällt, bekannt zu sein oder es nicht zu sein!

Wenn es mir gar gefiele, im Schatten eine subtile Aufgabe zu vollenden
Und schließlich den Mut zu haben, Euch feige zu erscheinen,
Macht ihr Euch dann dran mir den STERN zu entreißen, wo schüchtern ich beiße?


Ach! Gnade, sämtliche Plätze unaufhörlich ursupierend,
Stopft Euch voll mit Ruhm beim Bankett, frei von Gewissensbissen:
dorthin werde nicht ich kommen und mich niederlassen, bevor ihr gestorben seid!


Paris,1925
(vorläufige, wörtliche Übersetzung: Rolf A. Burkart)

Anmerkungen:
* Beiname von Saint-Pol-Roux: -- ,Le Magnifique"
* Traditionen der Zukunft, eine häufig verwendete Formel von SPR, cf. Bd.6 Der Werkausgabe mit gleichlautendem Titel
* Wortschöpfung: ,jérichotez" -- Verbbildung aus dem Jericho
* Doppelsinn: valets bedeutet sowohl Diener/Bedienstete wie auch ,Bube" (im Kartenspiel)
1891 von Jules Huret veranstaltete ,Enquête sur l'évolution littéraire", die SPR mit seinem Manifest des ,Magnifizismus" beantwortete.
* SPR greift hier, gewiß nicht ohne Absicht, auf das französische Verb ,vagir" zurück, das dem Wortstamm von ,vagin" (Vagina) entlehnt ist.
* Schichtungen (Begriff aus der Geologie), auch im Französischen als Fremdwort benutzt.
* Wortschöpfung: ,remanieurs": remanier = immer wieder zur Hand nehmen + betasten, umarbeiten, umbrechen (Layout)].

DAS AUSSCHLIESSLICHE COPYRIGHT FÜR DIESEN TEXT LIEGT BEIM AUTOR UND BEIM VERLAG ROLF A. BURKART!

 

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