Manoir de Coecilian, Camaret sur Mer
Bretagne/France
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DER
IDEOREALISATOR
Saint Pol Roux - der sanfte
Avantgardist
von Joachim Schultz
1 .
Victor Segalen schrieb am 14. Oktober 1901 an Saint-Pol-Roux: Obwohl ich als Fremder kam, haben Sie mich so au genommen, wie ich es
nie vergessen werde. (I,21)ll
Saint-Pol-Roux' Gastfreundschaft, seine Freundlichkeit, sein Sympathie
ausstrahlendes Wesen waren allen bekannt, die ihm begegnet waren. Die Bewohner
von Camaret, die ihn noch erlebten, erinnern sich, daß er der selbst
nicht im Überfluß lebte - immer ein Geschenk für die Kinder zur
Hand hatte, die ihn in seinem Haus, einem kleinen wunderlichen
Schlößchen, hoch über der bretonischen Küste, besuchten.
Am Weihnachtsabend soll er nicht selten den "pere de noel" gespielt
haben. Ich bin ein Fremder für ihn; ich habe weder ihn noch seine Zeit
gekannt, seine Muttersprache ist nicht die meine, und ich bin ein
Angehöriger jenes Volkes, das ihm soviel Unglück und letztlich den
Tod bereitet hat. Damit steht er unter den französischen Dichtern nicht
allein: Robert Desnos, Max Jakob und noch einige andere, die von deutscher
Brutalität zerstört wurden.
Ergänzungen:
Man drückt nur das aus, was man erlebt hat. Alles andere bleibt
Literatur.;(1,36)
2.
Warum nun dieses Interesse für einen Dichter, der, seit ihn die
Surrealisten zu feiern versuchten, immer mehr in Vergessenheit geraten ist ?
Ich könnte mich leicht mit den Worten Andre Pieyre de Mandiargues'
rechtfertigen: Für alle diejenigen (sie sind nicht sehr zahlreich),
die in der Dichtung die begeisterndste und nicht die weniger nützliche
Aktivität sehen, deren der menschliche Geist fähig ist, sollte der
Name Saint-Pol-Roux in einem nicht zu übertreffenden Glanz leuchten.
(11,7) Damit wäre mein Vorhaben, diesen Dichter der Vergessenheit
zu entreißen, schon fast legitimiert, und ich stünde selbst in einem
recht vorteilhaften Lichte da, zähle ich (mich selbst) doch zu den
Wenigen, für die Dichtung noch jene ihr zukommende Bedeutung hat. Doch es
erscheint weitaus mehr angebracht, etwas Aktualität aus dem scheinbar
nicht aktuellen Werk Saint-Pol-Roux zu filtern.
Ergänzungen:
Die Intelligenz ist das Abendland.
Die Phantasie ist der Orient des vom Genie gebildeten Zentrums. Etwas
Phantasie wiegt mehr als viel Intelligenz. Die Intelligenz ist der Bankier, die
Phantasie findet Goldklumpen. (11,101)
Die Gesetze der Vernunft sind unbeugsam, die Gesetze der Phantasie
flexibel, dehnbar. Sie sind liebende Arme, kleine Ketten. Wir leben dank der
Gesetze, aber wir sterben durch sie.
Das ist die Knechtschaft.
Wagen. (11,119)
Der Wahnsinn wird zur Vernunft. (11,62)
3.
Wie gesagt: ich kenne es kaum, dieses Werk; es gehört schon ziemlich
viel Naivität dazu, so spontan mit diesen Annäherungen zu beginnen.
Doch, so schrieb Saint-Pol-Roux:
Das Genie ist gigantische Naivität.(1,36)
Wiederum diese Eitelkeit meinerseits, doch andererseits auch jener
spielerische, teilweise parodistische Elitarismus, mit dem Saint-Pol-Roux, der
sich selbst einmal »Le Magnifique'« nannte, zu schreiben begann und
an die Öffentlichkeit trat. Doch ist diese Haltung nicht ein berechtigter
Schutz in einer Welt, in der die Nützlichkeit an erster Stelle steht, in
der mehr und mehr nur noch Staatspräsidenten, Politik-Technokraten,
Offiziere, Bankiers, Großfabrikanten und ähnliche
Persönlichkeiten zur Elite gerechnet werden?
Hier ließe sich doch an Pieyre de Mandiargues' Satz anknüpfen,
der zu verstehen gibt, daß die Dichtung von der Mehrheit eben nicht als
nützlich angesehen wird. Gerade heute, wo einige beginnen festzustellen,
daß das allein auf materielle Dinge bezogene Nützlichkeits und
Fortschrittsdenken geradewegs in den Untergang führen kann, erscheint es
angebracht an Saint-Pol-Roux zu erinnern, der in dieser Beziehung die
Nutzlosigkeit lebte und schrieb. Oder besser gesagt: der den Fortschritt der
Wissenschaft für nutzlos erachtete, wenn nicht gleichermaßen die
Kunst Fortschritte mache.
Ergänzungen:
... die Wissenschaft ist vor ihrem Dasein vom Menschen geschaffen
worden.
Die Schönheit dagegen triumphierte bereits, bevor der Mensch war.
Während also das Genie des Arbeiters darin besteht, den Triumph der
Wissenschaft zu finden, also im Wohlsein durch Eigenliebe und Hochmut, besteht
das Genie des Künstlers darin, den Triumph der Kunst, die Schönheit,
wiederzufinden. (111,99)
4.
Bleiben wir zunächst noch in der heutigen Zeit, die uns näher ist
als die hermetischen Schriften eines symbolistischen Dichters. Was tun denn
diejenigen, die erkannt haben, daß diese Fortschrittsnützlichkeit
eigentlich unnütz ist? Machtlos, wie sie sind, gelingt es ihnen
zunächst nur zu fliehen, auszusteigen, um das Modewort zu gebrauchen. Doch
diese Flucht könnte sie, wenn wir Saint-Pol-Roux glauben, zur Kunst
führen:
»Thalassa.
Perlgraue Flügel, Flieg davon.
Man muß fliehen.
Die Kunst ist eine Flucht
Das Material ist nicht das der Erde, seine Substanz ist in uns. «
(11,66/67)
Wir müssen fliehen, und die Kunst ist für Saint Pol-Roux die
alleinige Form der Flucht, die uns zu uns selbst und damit zum Anfang einer
neuen Welt führen kann. Thalassa heißt die Seemöwe des
Dichters. Als ich im Herbst über die Klippen von Camaret wanderte und mir
die Ruinen von Saint-Pol-Roux' Haus anschaute, jenes pompösen Schlosses,
in dem man (wie mir die Wirtin meines Hotels versicherte) gar nicht hatte leben
können (das Haus eines Dichters!), sah ich die Möwe mit
ihren perlgrauen Flügeln. Zur gleichen Zeit sah ich jene
Illustriertenfotos vor mir, wo man ebensolche Möwen sieht: schwarz von
Öl liegen sie verendet auf dem verwüsteten Strand, während
Fischer und Soldaten versuchen zu retten, was noch zu retten ist.
Handanlegen, sich wehren, revoltieren: das sind unsere Möglichkeiten.
Aber für viele ist zunächst die Flucht der erste Schritt dazu.
5.
Wieder habe ich aus dem Werk des Dichters zitiert, obwohl ich doch vorgab,
es nicht zu kennen. Es ist an der Zeit, meinen Standpunkt zu
klären:
Vor einigen Jahren beschäftigte ich mich mit den literarischen
Manifesten der Belle Epoque in Frankreich, jener Zeit um die Jahrhundertwende,
in der sich (nicht nur) in Frankreich die literarischen Schulen gegenseitig
wie die Mikroben verschlangen (Proust). Dabei stieß ich auf
die frühen Manifeste Saint-Pol-Roux'. Diese Manifeste hätten
eigentlich hinter der Vielzahl der anderen Manifeste und ästhetischen
Programme und ihrer Verfasser verschwinden
können doch schon bald sollte ich feststellen, da Saint-Pol-Roux mich
weitaus mehr faszinierte als all anderen. Eine Reihe von äußerst
nützlichen Beschä:ftigungen hielt mich dann jedoch davon ab, mich
mehr als nur sporadisch mit diesem Dichter zu beschäftigen. Ich las die
Biographie von Theophil Briant (IV), der immerhin eine Textauswahl beigegt ben
hatte; mir fielen Ausschnitte aus den Notizbüchern, die zusammen mit zwei
Reden des Dichter veröffentlicht worden sind, und der Briefwechsel in
Victor Segalen in die Hände; ich las die Homage Saint-Pol-Roux
der Surrealisten in den Nouvell Littéraires(V); ich machte
die bereits erwähnte Reis nach Camaret.
Diese Aufzeichnungen hier sind einerseits das Ergebnis meiner sprunghaften
Spurensuche und einer noch andauernden Beschäftigung, andererseits
Aufforderung an mich selbst und an andere, mehr Zeit dieser Werk und diesem
Autor zu widmen.
6.
Ich bin mir durchaus bewußt, daß ich mir die Faszination
zerstöre, wenn ich sie beschreibe. Doch auch das ist gewissermaßen
wieder ein Gedanke von Saint-Pol-Roux, der 1893 im Liminaire zu
Les Reposoirs de la Procession schrieb:
»Selbst das ausgezeichnete Werk ist nur die unvollkommene Erinnerung an
einen vollkommenen Augenblick, jede Schöpfung erweist sich
notwendigerweise als der Konzeption unterlegen, da sich zwischen diese und jene
eine bedauernswerte Periode von Abnutzung und Vergessenheit schiebt. Daraus
folgt, daß es die beste Haltung, die sicherste Lebensweise, das Über
Genie wäre, sich in der Kontemplation zu beschränken und nichts
auszuführen.« (V1,15)
Um wieviel geringer wäre dann doch der metaliterarische Diskurs. Aber
das ist ein anderes Problem. Halten wir vielmehr fest, daß hier
Saint-Pol-Roux einen Gedanken, einen Konflikt wohl als erster formuliert hat,
der die Avantgarde immer wieder beschäftigt hat. Zwei Beispiele: Tristan
Tzara, Dadaist und Vorläufer des Surrealismus, schrieb 1934 in der
Zeitschrift »Le Surréalisme au service de la Revolution«
(No.4):
Heute ist allgemein bekannt, daß man Dichter sein kann, ohne
jemals einen Vers geschrieben zu haben.
H.C.Artmann nahm diese These fast wörtlich in seine »Acht Punkte
Proklamation des poetischen Aktes« (1953) auf:
Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß
man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder
gesprochen zu haben.
Daraus spricht der Ekel vor dem häßlichen Umfeld der Poesie, doch
das Schweigen ist keinem von denen, die diesen Gedanken geäußert
haben, gelungen. Die Dichtung soll aus dem Bereich der Sprache in die
Lebensweise verlegt werden. Saint-Pol-Roux hat das Schweigen versucht, als er
1898 aus dem literarischen Paris in die Bretagne floh; mehr noch: er hat
versucht, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen, In Camaret hing, wenn er
schlief, ein Schild an seiner Tür: »DER DICHTER ARBEITET.« Er
arbeitete daran, Kontemplation und Aktivität wieder zu vereinen. Die
Weigerung zu produzieren, eine verständliche Reaktion auf Vielschreiberei
und und falsches Kunst-Prophetentum ebenso, wie auf die bürgerliche
Verachtung der Kunst, sollte durch ein aktives Leben als Künstler und
Mensch ersetzt werden.
Ergänzungen:
Nicht der passive, sondern der aktive Mystizismus. Die absolute Tat des
Denkens.
Nicht die Kontemplation, sondern ein aktives Leben, immer auf der Suche.
Nicht die Verachtung der Werke, sondern der dauernde Wunsch, sie zu erzeugen.
Nicht.... sondern das konstante Feuer, um die Höhen zu ergründen, so
wie die Wissenschaft die Tiefe ergründet hat. Der Kegel der Forschung
wendet sich. Die Spitze ist oben.
Die Abstraktion konkretisieren. (11,85)
Die Substanz der Dichtung ist mehr und mehr innerlich, geistig,
metaphysisch mit dem Wunsch, in die Außenwelt zu gelangen, sinnlich zu
werden, in eine organische (natürliche) Ordnung zu treten.
Auf der Über Schöpfung bestehen, der Rest ist nichts. (11,67)
7.
Saint-Pol-Roux ein Avantgardist? Gewiß war er es zu Beginn der 90er
Jahre des 19. Jahrhunderts, als er in einem poetischen Glaubensbekenntnis
ausrief:
Auf! Der Kreuzzug des Genies!
Militärische Metapher latente Gewalttätigkeit der Avantgarde',
könnte man mit Enzensberger sagen. Doch forderte Saint-Pol-Roux zur
gleichen Zeit, in der sich die Dichter und Literaten bis zum Duell bekriegten,
den Waffenstillstand:
Wir erleben einen neuen Kampf: junge Männer schlagen sich mit der
Feder. Es handelt sich um Dichter, muß man es noch sagen?
Sie können sich nicht begegnen, ohne den Raum, der sie trennt, mit
bösen Blicken zu vergiften.
Wenn sie ein Wort wechseln, dann ist es eine Kugel. Von jeder papiernen
Festung 0, die brüderlichen Zeitschriften von damals! hagelt es Granaten
von Geifer auf die gegnerischen Lager. Der Handschlag, diese zweifache Blume,
erblüht nicht mehr im Garten der Schönheit.
Ein solches Unglück kann wirklich nicht länger andauern!
Ich fordere den Waffenstillstand! (V 111, 193)
Saint-Pol-Roux verabscheute die Plänkeleien, den Futterneid der Dichter
und Literaten (das soll es ja heute noch geben ... ), das
großsprecherische Imponiergehabe der Avantgardisten. Doch er übersah
dessen soziale Grundlagen und konnte sich selbst nicht davon befreien: er
übernahm ihre militärische Metaphernsprache und ihren souveränen
Absolutheitsanspruch:
Vorwärts, auf die Suche nach dem Absoluten!
Ergänzungen:
Genie Revolte.
Das Meisterwerk ist eine Irrlehre, die zum Dogma wird, das Meisterwerk
ist ein Schisma, das als Religion endet.
Das Genie ist ein Bastard des heiligen Geistes, das zuletzt, von allen
für rechtmäßig erklärt, über die ganze Weit herrscht. (11,123)
8.
Saint Pol Roux' Werk und Haltung zeigen gewiß zumindest vor seinem
Rückzug in die Bretagne alle negativen Seiten des Avantgardismus: die
aristokratisch überhebliche Haltung des Kunstpapstes; er bezeichnet sich
selbst als Le Magnifique und seine Dichtung als Le
Magnificisme.
Der »magnificisme« ist die Kunst, das Absolute zu suchen:
das Dasein, dargestellt durch die Instrumentierung seiner Phänomene.
(111,96)
Nichts weniger als das gesamte Dasein will er zum Ausdruck bringen. Der
für die Avantgarde typische Eklektizismus: man nimmt sich aus den gerade
modischen Philosophieströmungen und aus den Programmen der Gegner und
Freunde die passenden Ideen.
Begriffe wie supergénie oder
surcréation sind gewiß auf Nietzsche
zurückzuführen, dessen Werke um die Jahrhundertwende ein Geheimtip
des intellektuellen Frankreich waren. Saint-Pol-Roux' optimistischer Glaube an
die Zukunft findet sich in allen Manifesten der Zeit und er erlebt seinen
Höhepunkt im Futurismus Marinettis. In dem am 19. Juni 1925 vor Pariser
Studenten (und Surrealisten) gehaltenen Vortrag Le Trésor de
l'homme [DER SCHATZ DES MENSCHEN,
Bd. 11 d. Werkausgabe] verkündet er:
Die Wahrheit in der Kunst besteht darin, nicht von der Vergangenheit,
sondern von der Zukunft auszugehen. (I1,37)
Aber dort spricht er auch von den Traditionen der Zukunft [Bd. 6 d. Werkausgabe] und die Kunst definiert er
folgendermaßen: Kurzum, die Kunst, diese göttliche Geste,
besteht darin, den Zauber des gegenwärtigen Lebens zu vermehren, indem man
seinen Umfang vergrößert. (ebd.)
Der alles für möglich haltende Aktivismus der Avantgarde bestimmte
auch das Denken Saint-Pol-Roux'. Sein Eintreten gegen die Faulheit und für
die Aktion bedeutet jedoch nicht Zerstörung, sondern
Vergrößerung zunächst der individuell geistigen und dann auch
der materiellen Welt. Seine Kunst soll alles umfassen: Tradition, Gegenwart und
Zukunft. Die Macht, die das ermöglicht, ist die Phantasie Der Schatz
in jedem Menschen deren Loblied er in seinem Vortrag singt. Mit diesem
Ziel, das zugegebenermaßen heute, in der Zeit der müden und
depressiven Dichter, auf ein geringschätziges Lächeln stoßen
mag, hatte Saint-Pol-Roux sich sowohl eine unmögliche als auch eine
Lebenslängliche Aufgabe gestellt, und dieses Ziel mag auch ein Grund
dafür gewesen sein, sich aus dem alltäglichen Literaturbetrieb und
dem Zwang der Mystifikation zurückzuziehen. Er veröffentlichte noch
seine beiden umfangreichen, dem Symbolismus zuzuordnenden Werke das kaum
aufzuführende Versdrama La Dame à la faulx(1899) [DIE
DAME MIT DER SENSE], das er Sarah Bernhardt widmete, und die dreibändige
Textsammlung Les Reposoirs de la Procession(1901, 1904, 1907) [DIE STATIONEN DER PROZESSION] doch dann wurde es
immer stiller um ihn. Er arbeitete bis zu seinem Tode an seinem Großen
Werk, das eine Synthese von Dichtung, Ästhetik und Ethik werden sollte. Es
entstand eine Sammlung von Aufzeichnungen, Aphorismen und Notizen
(L'oeuvre en miettes), von denen aber, nach der Zerstörung
seines iAauses (1944), nur Teile erhalten sind. [vgl. RES POETICA, Bd. 12 d. Werkausgabe]
Ergänzungen:
Verjüngung, Zukunft.
Die Zukunft ist die Jugend in konstanter, andauernder Entstehung. Sich
nicht von Gesetzen hindern lassen, die Gesetze sind davor, in dem Sinne, als
sie sich aus dem Werk erheben, das Genie erschafft sie, sie sind Teile des
Werkes und entstehen gleichzeitig mit ihm. Das Genie ist eine Tat, eine
Bewegung nach vorn, das Meisterwerk ist die Zukunft. (II,89)
Das Wissen ist Faulheit. Der junge Mann, der die Schule
verläßt, ist ein Greis, wenn er sich nicht durch das Vergessen
verjüngt. Ich bin in das Vergessen eingetreten. Man hält euch mit
Tauen zurück tote Körper brecht auf ins Abenteuer, leidet, geht
unter, aber bleibt nicht auf dem Ufer des Glücks, ertrinkt, sterbt, aber
lebt nicht in eurem lärmenden Nichts. Auch ich war jung, ich war
schön, ich war der Wunderbare, ich habe mich davon entfernt, ich habe
einsamer gelebt als ihr alle zusammen.
Die Einsamkeit ist die größte und volkreichste Stadt. Ich war
meine Bibliothek. Wie Robinson habe ich alles wiederaufgebaut, ich habe die
Welt neugeschaffen. (11,85/85)
9.
Les Reposoirs de la Procession (Die Stationen der Prozession)
Die Kunst ist die menschliche Natur Gottes...
Ich glaube an Gott als an das authentischste, kollektive Meisterwerk
der vielgestalteten Menschheit.
Derartige Titel und Äußerungen, die Saint-Pol-Roux' Werk
bestimmen, mögen uns anachronistisch erscheinen, wegen ihrer für die
Jahrhundertwende charakteristischen Vergöttlichung der Kunst Man
suchte den Lückenbüßer für die Religion und fand ihn
beglückt in der imaginativen Kunst. (Carl Einstein) und wegen der
darin angedeuteten demiurgischen Haltung: nur Gott kann das vollkommene
Kunstwerk schaffen, darum muß der Mensch erst Künstler, dann ein
Gott werden: Man muß aufhören ein Mensch zu sein, um wieder
ein Gott zu werden. (IV, 205) Das Genie ist der Irrtum für die
Menschen, und es ist die Wahrheit für die Götter. (ebd.)
Doch wir dürfen weder den metaphorischen Charakter dieser
Äußerungen außer Acht lassen Gott ist
Annäherungsmetapher, der ideale Zustand, der, wie das vollkommene
Kunstwerk niemals zu erre ichen ist noch dürfen wir übersehen,
daß diese religiöse Haltung ganz im Sinne der Bergpredigt und nicht
im Sinne eines absolutistischen Gottgedankens steht: Das Genie ist die
Güte. (11,56) Güte, Bescheidenheit und das unmögliche
Ziel, das vollkommene Kunstwerk zu schaffen, haben Saint Pol Roux dazu bewegt,
sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, das Vergessenwerden dem Ruhm
vorzuziehen.
10.
Diese Haltung die höchste Reinheit seiner Haltung
(André Breton) war es zunächst, die die Surrealisten (und mich wohl
auch) begeisterte. André Breton widmete Saint Pol Roux sein Clair
de terre mit den Worten:
Dem großen Dichter
SAINT POL ROUX
Denjenigen, die wie er, sich
DAS WUNDERBARE
Vergnügen gönnen
sich vergessen zu lassen.
Sich zurückziehen, in Einsamkeit leben, das Leben zum Kunstwerk machen.
Es sind die Einsamen, die das Gleichgewicht der Welt bewahren, weil
sie am Angelpunkt, die Zentren sind. (I1,85)
Diese Lebensweise und der Wille, alles aus sich selbst zu schaffen, waren
der erste Grund dafür, daß Breton und die Surrealisten Saint Pol
Roux als einen ihrer Vorläufer ansahen und ihn bewunderten.
Er seinerseits konnte den Surrealisten Sympathie, aber keine Begeisterung
entgegenbringen. Als sie ihn 1925 zu einem Bankett in die Closerie des
Lilas einluden, war er zur Stelle, doch als der Abend in Chaos und
Schlägerei ausartete, setzte er sich in den Zug und fuhr zurück nach
Camaret. Der sanfte Avantgardist konnte diese lächerliche
Aggressivität nicht akzeptieren.
Ergänzungen:
Maxime
Die Menschen fliehen, um sich besser der Menschheit nähern zu
können; sich der Natur nähern, um mit wachsender Vertrautheit sie zu
fliehen; dann, zwischen dieser Flucht und dieser Annäherung, sich
verwurzeln, den Mittelpunkt einnehmen, wie in einem Schnittpunkt, durch eine
Über Schöpfung, die dem Ich entspringt, in einem Vergessen, das sich
manchmal erinnert. (V)
11.
Saint Pol Roux ist surrealistisch im Symbol. (Breton, Erstes
Manifest des Surrealismus) Dies ist die andere Seite der Bewunderung der
Surrealisten für den Vorläufer in Camaret. Für Breton ist er der
»Meister des Bildes«(V). Es geht um das Symbol bzw. das Bild, aber
nicht im Sinne der Baudelaire'schen correspondance", die
niemals die Wege der Logik verläßt, sondern um die Methode, durch
das Wort die platte Realität zu erweitern, alle Bereiche des
Bewußten und Unbewußten zu vereinen.
Ein Beispiel:
Wir schlafen mit unserer Großmutter, schlafen wir doch lieber
mit unserer Tochter. (I1,66)
Saint Pol Roux will damit sagen, daß der Künstler sein Werk aus
der Vergangenheit, die ihn gemacht hat, und nicht aus dem, was nach ihm kommt
erzeugt. Aber er sagt es nicht so, sondern er bringt das Inzesttabu ins Spiel.
Für ihn ist der herkömmliche Künstler derjenige, der sich in
perverser Neigung, kaum verständlich, aber für ihn vielleicht
lustbringend, der Vergangenheit hingibt; die aber kann nichts mehr
gebären. Mit Hilfe der Zukunft aber, als Tochter und Frau, kann der Mensch
vielleicht etwas Neues zur Welt bringen. Schöpfung und Sexualität,
Lust und Perversion, Liebe und Kreativität sind in diesem Bild
unauflöslich miteinander verbunden.
Wie bekannt, gab es keine einheitliche Theorie des Symbolismus, nur
ebensoviele programmatische Manifeste wie symbolistische und neosymbolistische
Schulen: von Mallarmé und Rané Ghil über Jean Moréas
bis zu Adolphe Lacuzon, um nur wenige zu nennen.
Der Symbolismus ist die Anarchie, schrieb Remy de Gourmont, der
bekannte Kritiker und Theoretiker jener Zeit. Die symbolistische
Literatur entspringt der individuellen Persönlichkeit, schrieb
Saint-Pol-Roux an Victor Segalen und vergleicht mit der klassischen Literatur,
die auf allgemein anerkannten Gesetzen beruht (1,25). Die Dichtung ist allein
noch von der Vorstellungskraft des Einzelnen und nicht von allgemeinen Regeln
abhängig. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Breton Saint Pol Roux
als den Einzigen authentischen Vorläufer der Moderne unter den (zu seiner
Zeit noch) lebenden Dichtern bezeichnet.
Hinter diesen Auffassungen steht die unbezweifelte Ansicht, daß allein
der Dichter (und nicht der Wissenschaftler) in der Lage ist, der chaotischen
Realität Einheit zu verleihen. Die surcréation Saint
PolRoux' und der esprit nouveau Apollinaires, wo neben dem
Ernsthaften das Banale und Lächerliche ihren gleichberechtigten Platz
haben, sind die direkten Vorstufen dessen, was Breton und seine Anhänger
als Surrealismus bezeichneten.
Ergänzungen:
Saint-Pol-Roux gebührt unter den Lebenden der erste Platz, und
mit vollem Recht kann er unter ihnen als der einzige authentische
Vorläufer der sog. modernen Bewegung geehrt werden. Es wäre leicht,
das zu zeigen, was der Kubismus, der Futurismus, der Surrealismus ihm
verdanken.
Allein das Bild, in dem, was er an Unerwartetem und Schlagartigem hat,
gibt mir das Maß der möglichen Befreiung, und diese Befreiung ist so
vollkommen, daß sie mich entsetzt. Durch die Macht des Bildes
könnten sich künftig die wahren Revolutionen verwirklichen.
(Breton, V)
12.
Hier muß ich aufhören und die Frage nach dem heutigen Leser
stellen, der nur schwer diesen Höhenflügen folgen'kann.
Ist die Zeit der himmelstürmenden Bilder nicht vorbei? Ist das nicht
alles überholt? Heute wo die Literatur zunächst einmal versucht die
politische und individuelle Realität, die eigene und die fremde Welt zu
beschreiben. Sollte man sich nicht damit begnügen, statt in metaphorische
Fernen zu fliehen?
Doch man beginnt heute auch zu erkennen, daß selbst in der
Wissenschaft es nicht mehr genügt, die oberflächlichen Phänomene
aneinanderzureihen.
Wissenschaft und Dichtung müssen mehr liefern als die Wiedergabe von
Beobachtungen. Die Objektivität reicht nicht mehr aus, nur die
Subjektivität kann unser Wissen vervollständigen und uns vor der
Zerstörung bewahren.
Alle Stufen des Daseins des Ichs und dessen, was das Ich erlebt sollten
untersucht, dargestellt und dadurch verstanden werden. Vielleicht wird eine
eingehendere Beschäftigung weniger, vielleicht aber auch mehr zu Tage
bringen.
Anmerkungen
Die römischen Ziffern beziehen sich auf die folgenden
Werke und Texte, die arabischen auf die betreffenden Seitenzahlen.
Alle Zitate wurden von mir übersetzt, soweit sie nicht schon in deutscher
Übersetzung vorlagen.
I) Saint-Pol-Roux/Victor Segalen,
Correspondance. Prefacée par Kanne Joly Segalen. Limoges (Rougerie)
1975, deutsch: BRIEFWECHSEL, Bd.16 der Werkausgabe
II) Saint-Pol-Roux, Le Tresor de l'Homme. Prefacée de André
Pieyre de Mandiargues. Suivie de L'Oeuvre en Miettes de
Saint-Pol-Roux par Gérard Macé. Limoges (Rougerie) 1970,
deutsch: DER SCHATZ DES MENSCHEN, Bd.6 der
Werkausgabe
III) Saint-Pol-Roux, De l'Art Magnifique. In: Mercure de France No.26
(février 1892), S.97 104
IV) Théophile Briant, Saint-Pol-Roux. Une étude avec un choix de
textes, des illustration, une chronologie bibliographique: Saint-Pol-Roux et
son temps. Paris/Seghers 19713 collection Poètes aujourd'hui 28).
V) Louis Aragon André Breton u.a., Hommage à Saint-Pol-Roux. In:
Les Nouvelles Littéraires. No. du 9 Mai 1925, S.5
VI) Saint Pol Roux, Liminaire. In: Ders., Les Reposoirs de la Procession. 1.
Auflage. Paris (Mercure de France) 1893, S. 1 23, deutsch: DIE STATIONEN DER
PROZESSION I (Bd.2), II (Bd.3), III (Bd.4) der Werkausgabe)
VII) Saint Pol Roux, La Gent irritable. La Trêve In: Mercure de France
No.22
(octobre 1891) S. 193 196
Fortsetzung: SPR - ZWEITER VERSUCH
DAS AUSSCHLIESSLICHE COPYRIGHT FÜR
DIESEN TEXT LIEGT BEIM AUTOR UND BEIM VERLAG ROLF A. BURKART!
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