1. Das Drama in Camaret
Schauplatz: ein einsames Herrenhaus, fast ein Schloß („Le manoir de Coecilian“) nicht weit von Camaret an der bretonischen Westküste. Dort leben ein 79jähriger Mann, seine 42jährige Tochter Divine und die Haushälterin Rose. Wir schreiben den 23. Juni 1940.
Der Norden und Nordwesten Frankreichs sind seit dem Waffenstillstand vom Vortage offiziell von den Deutschen besetzt, der Süden und Südwesten werden von den französischen Kollaborateuren in Vichy regiert. Während des Tages kommt ein deutscher Soldat und verlangt von Divine und der Haushälterin zwei Eier, die ihm verweigert werden. Am Abend ist er wieder da und will das Haus durchsuchen, da er dort versteckte englische Soldaten vermutet. Die Durchsuchung verläuft ohne Ergebnis. Der Deutsche, bewaffnet mit zwei Revolvern und einem Dolch, zwingt den Hausherrn, den Strom abzuschalten und versucht dann, ihn und Rose in den Keller zu sperren. Was er will, ist klar: Divine.
Ein Handgemenge beginnt: Rose wird erschossen, Divine schwer am Bein verletzt, der Hausherr liegt ohnmächtig im Keller. Der Soldat schleppt Divine in den Salon; erst als der große Wolfshund ihr zu Hilfe eilt, flieht er. Divine rennt nach draußen, bricht aber nicht weit vom Haus zusammen, wo man sie am nächsten Morgen blutüberströmt findet. Dem Hausherrn war es gelungen, nach Camaret zu gelangen und Hilfe zu holen. — Das Haus wird einige Tage später geplündert, dann von den Deutschen besetzt. Der alte Mann hat dieses Drama nicht lange überlebt: am 13. Oktober 1940 stirbt er in einem Krankenhaus in
Brest, betreut bis zuletzt von seiner Tochter, die mittlerweile von ihrer Verletzung genesen war.
Mit ihm starb einer der originellsten französischen Dichter: Paul-Pierre Roux, der seit seinen Anfängen zur Zeit des Symbolismus seine Werke mit dem Pseudonym Saint-Pol-Roux zeichnete, abgekürzt S.P.R., was — liest man die Buchstaben — den Imperativ Espère! (Hoffe!) ergibt. Begonnen hatte er (geboren am 15. Januar 1861 in der Nähe von Marseille) als symbolistischer Dichter im Paris des ausgehenden 19. Jahrhun-derts. In dieser so turbulenten Zeit — der Belle Epoque, der Banquet Years — veröffentlichte er seine wichtigsten Werke. Dann, 1898, zog er sich mit seiner Familie in die Bretagne zurück, wo er, vom literarischen Frankreich fast vergessen, an seinem Lebenswerk arbeitete.
In den Zwanziger Jahren wurde er von Andre Bretor und den Surrealisten aus der Vergessenheit geholt und als Vorläufer gefeiert.
Breton, Aragon, Leiris, Desnos, Eluard, Vitrac u.a. trugen zur „Hommage à Saint-Pol-Roux“ bei, die am 9. Mai 1925 in „Les Nou-velles Littéraires“ erschienen ist. Mit dem Zerfall der surrealistischen Gruppe geriet auch Saint-Pol-Roux, der ihrem Treiben mit skeptischem Wohlwollen gegenüberstand, wieder mehr und mehr in Vergessenheit, bis zu seinem Tod, dessen Vorgeschichte ganz Frankreich schockierte.
Heute ist er in Frankreich kaum, in Deutschland so gut wie gar nicht bekannt. Außer einigen Aufsätzen und meist kurzen Kapiteln in literaturgeschichtlichen Monographien gibt es nur eine recht gute, aber kurze Biographie über ihn.(1)
Er gilt zwar als ein wichtiger Wegbereiter der klassischen Avantgarden (besonders des Surrealismus), doch dieses Wissen findet man meist nur in Fußnoten. Seit den 70er Jahren werden seine Werke in einem kleinen französischen Verlag (Rougerie, Limoges) veröffentlicht. Auf dieser Grundlage ist es an der Zeit, sein Werk auch in Deutschland bekannt zu machen.
2. Aufbruch nach Paris
1882 sitzt Paul-Pierre Roux im Zug nach Paris. Seinem Vater, dem Besitzer einer kleinen Kera-mikmanufaktur, hat er gesagt, er wolle Jura studieren. Was ihn aber in Wirklichkeit lockt, ist das literarische Paris, wozu dieser Zeit die Dichter des Parnasse, die ‚Erfinder’ des l’art pour l’art, sich im Glanze ihres Ruhms sonnten, wo die Hy-dropathes um Emile Goudeau ihre poetischen Happenings veranstalteten, wo Verlaine, Rimbaud und Mallarmé unter Kennern als die Meister einer neuen Dichtung galten; einer Dichtung, die seit dem 1886 im Figaro erschienenen Manifest „Le Symbolisme“ von Jean Moreas recht vereinfachend mit dem Schlagwort „Symbolismus“ bezeichnet wird.
Paul-Pierre Roux sitzt in einem Eisenbahnabteil, und die Mitreisenden warnen ihn vor den Gefahren der Großstadt Paris. Doch er läßt sich nicht entmutigen und glaubt fest an seine große Laufbahn als Dichter.(2) In Paris knüpfte er Kontakte (u.a. mit Mallarmé, Villiers de I’Isle-Adam, Mae-terlinck) und veröffentlicht Gedichte in einigen der zahlreichen, damals in Paris erscheinenden Literaturzeitschriften. Nachdem er noch im gleichen Jahr sein Jurastudium aufgegeben hat, widmet er sich ganz der Dichtung. 1884 und 1885 kann er seine ersten Gedichtbände veröffentlichen („Golgatha“, „Seul et la Flamme“); mit Gedichten, die noch ganz unter dem Einfluß der Parnassiens standen.
Zu Beginn der neunziger Jahre schließt er sich dem neo-mystischen und literarischen Orden der Rosenkreuzer La Rose-Croix Esthé-tique von Josephin Peladan an, dessen Gründungsmanifest er — bereits mit dem Pseudonym Saint-Pol-Roux — mitunterzeichnete. Die Mitglieder dieses Ordens, der als die bedeutendste unter den damals florierenden esoterischen Dichtergruppen bezeichnet werden kann, waren die Anhänger einer Art Dichtungs- und Kunstreligion. Politisch konservativ bis monarchistisch gesinnt, sahen sie sich als ,Fanatiker der Kunst’. Saint-Pol-Roux, der sich bald von diesen literarischen Ordensleuten trennte, war zu Beginn der neunziger Jahre in den literarischen Zirkeln von Paris so bekannt, daß ihn Mallarmé bei einem der ständig stattfindenden Bankette (am 23. März 1891) als „seinen Sohn“ bezeichnete. In diesen Jahren wurden die wichtigsten Literaturzeitschriften der Belle Epoque gegründet: La Revue Blanche, Le Mercure de Paris, La Plume, von denen der Mercure Saint-Pol-Roux’ wichtigstes Forum wurde.
Der führende Kritiker dieser Zeitschrift, Remy de Gourmont, bezeichnete ihn schon damals als einen der ,fruchtbarsten und erstaunlichsten Erfinder von Bildern und Metaphern‘.(3)
3. Le Magnificisme
1891 erschien als Buch Jules Hurets „Enquête sur l’evolution littéraire“, eine Umfrage unter den wichtigsten Dichtern und Kritikern des literarischen Paris, die zuvor in Fortsetzungen in einer Zeitung veröffentlicht worden war. Saint-Pol-Roux, der von Huret nicht angetroffen worden war, hatte einen Brief geschickt, in dem er seine Dichtung mit dem Schlagwort „Le Magnificisme“ bezeichnete. In diesem Brief und in einem weiteren wichtigen Manifest „De l’Art Magnifique“(4) umreißt er seine poetische Theorie, die er später unter der Bezeichnung „Ideoréalisme“ weiterzuentwickeln versuchte. Noch unter dem Einfluß der neo-mystischen Dichtergrup-pen ist für ihn die Kunst, ins-besondere die Dichtung, eine Religion, ein Weg zum Absoluten. Durch die Macht der Sprache, durch Bilder und Metaphern ist das Gedicht der Abglanz einer unendlichen Idee, von der die Welt bestimmt wird.
„Der Magnifizismus ((...)) die Kunst der Suche nach dem Absoluten: das Wesen, dargestellt durch die Orchestrierung seiner Phänomene.“ (5) So verschwommen diese Vorstellungen auch klingen mögen (zu verstehen sind sie vor dem Hintergrund der Rezeption des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, Novalis vor allem), so gehören sie doch zu den wichtigsten Texten der symbolistischen Theorie; neben dem „Traité du Verbe“ von Rene Ghil (1886) und seinem, allerdings bedeutenderen, Vorwort von Mallarmé. Der Sprache wird, dank ihrer Eigenschaft, in Metaphern, Bildern, Vergleichen und Symbolen das Unvereinbare zu verbinden, die Macht zugesprochen, dem Wesen der Dinge auf die Spur zu kommen. Hier liegen die Wurzeln einer absoluten Sprachkunst, die von den Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts proklamiert wurde. Verbrämt jedoch bei den Symbolisten, und besonders bei dem Saint-Pol-Roux dieser Zeit, von einer religiösen Haltung, die weniger die Darstellung der Realität, des Lebens, als vielmehr die der Idee in den Mittelpunkt der Dichtung stellt. Saint-Pol-Roux geht sogar in seinem Vorwort zur ersten Fassung der „Re-posoirs de la Procession“ (1893), einer Sammlung von poetischen Prosatexten, so weit, daß die Idee, die Konzeption auf jeden Fall über die Ausführung selbst zu stellen sei.
4. „Der Dichter am Fenster“
In dieser Zeit, nach 1893, konnte man bereits von einer „Krise der symbolistischen Werte“(Michael Décaudin) sprechen. So unterschiedliche Geister wie Léon Blum und Marcel Proust warfen den Symbolisten mangelhafte Form, Dunkelheit, ja Unverständlichkeit vor.(8) Ein weiterer Vorwurf, der von den jungen Dichtergruppen um 1900 den Symbolisten gemacht wurde, war der der Lebensfeind-lichkeit. Die Symbolisten hatten sich — so kritisierte z.B. Saint-Georges Le Bouhelier und die Naturalisten — vom Leben, von der Realität abgewandt.
Der Naturalismus Zolas, der mit dem Symbolismus zusammen diese Epoche bestimmte, gewann wieder mehr an Bedeutung, und man versuchte diese so entgegengesetzten Positionen miteinander zu vereinbaren.
Auch Saint-Pol-Roux begann an seinen symbolistischen Theorien zu zweifeln. 1895 zieht er sich zum ersten Mal aus dem Pariser Literatenleben zurück; er ‚flieht mit seiner Familie in die Ardennen, wo er bis zum September 1896 bleibt. Hier entstehen kurze Prosatexte, die er in die zweite Fassung seiner „Reposoirs de la Procession“(9) aufnehmen wird; darunter der wichtige Text „Le poete au vitrail“, den er bezeichnenderweise Marinetti gewidmet hat.
Er beschreibt darin seine Laufbahn als Dichter: In einem Turm geboren, konnte er die Außenwelt nur durch eine Art Kirchenfenster, eine schöne Frau darstellend, sehen. Aus dem Munde dieser Frau kamen, wie auf vielen mittelalterlichen Bildern, die Worte „Ich bin die Wahrheit.“ Auf der Grundlage dieser so gefilterten Eindrücke von der Realität schreibt er seine ersten Gedichte, die ihm, zu seiner großen Enttäuschung, von den Lesern mit herber Kritik zurückgegeben werden; u.a. mit den Worten: „Der Regenbogen ist nicht die ganze Natur, so wie Harlekin nicht die gesamte Menschheit ist.“ Voller Wut wirft er das Tintenfaß in das Fenster und erkennt, daß er nun — nachdem der Filter zerstört und er dem (Elfenbein-)Turm entflohen ist — die Realität erst in ihrem ganzen Ausmaß wahrzunehmen vermag. Mit dem folgenden Satz endet der Text: „Immer weiter hinter mir, gleich dem Wahrzeichen Onans, entschwand der Turm der Knechtschaft.“
Saint-Pol-Roux schildert hier seine Abkehr vom religiös gefärbten, sich oft in mittelalterlichen Feenwelten bewegenden Symbolismus und seine Hinwendung zu einer lebensnaheren Dichtung.
5. „Die Dame mit der Sense“
Diesen Gegensatz, diese Wende in seinem Leben, hat er auch in seinem großen Theaterstück „La Dame à la faulx“, dessen erste Fassung er 1896 beendete(10), thematisiert. Dieses Stück, das bis heute noch auf einen kongenialen Regisseur wartet, ist noch ganz in der Manier symbolistischer Dichtung geschrieben, die S. I. Lockerbie folgendermaßen charakterisiert: „Es handelt sich um ein langes, narratives Gedicht, der Allegorie benachbart, wo man den Helden meist vor einer mittelalterlichen Kulisse sieht, auf der Suche nach einem unerreichbaren Gegenstand oder Prinzip.“(11) In Saint-Pol-Roux’ Stück ist es der Ritter Magnus, der — um seine Braut Divine heimführen zu dürfen — zunächst den Tod besiegen muß. Der Tod jedoch (la mort) erweist sich als eine überaus verführerische femme fatale, eine belle dame sans merci mit ‘der Schönheit der Medusa’ (Mario Praz) —Saint-Pol-Roux hoffte, daß Sarah Bernhardt die Rolle übernehmen würde — die den Ritter dermaßen gefangennimmt, verzaubert, daß er Divine vollkommen vergißt. Im Verlauf einer großartigen Karnevalsszenerie (gemeint ist wohl auch das Paris um 1900) stirbt Divine, und Magnus folgt der „Dame mit der Sense“. Auch er muß sterben, denn der Tod ist nicht in der Lage, ihm ins Leben zu folgen. Doch das Stück endet versöhnlich: Das Kunstwerk wird den Tod überleben.
„Non, poète, la Mort cela n’existe pas,
Puisque ton oeuvre vit même après ton trepas.“
In einer Szenenskizze gibt Saint-Pol-Roux an, wie die drei Hauptfiguren zu verstehen sind:
Sie — Thema des Todes
(die Dame mit der Sense)
Magnus — Thema der Mensch heit
Divine — Thema des Lebens
Diese allegorische Grundkon-zeption steht, wie gesagt, ganz in der Tradition des Symbolismus. Doch damit ist weder die ungeheure Vielfalt dieses Stückes dargestellt — neben achtzehn namentlich benannten Personen soll gewißermaßen, in verschiedenen Gruppen und Chören, die gesamte Menschheit auf die Bühne gebracht werden —, noch ist nicht einmal angedeutet, inwieweit es sich um eine Vorwegnahme zahlreicher Aspekte der Moderne handelt. Auf Parallelen zu Freuds zur gleichen Zeit entdeckten ‚Todestrieb’, kann hier gar nicht eingegangen werden. Es geht um einige Ideen, die dann später vom Futurismus und vom Surrealismus aufgenommen werden. So findet man bei-spielsweise den Lobpreis der Zukunft, ähnlich wie 14 Jahre später bei Marinetti:
„Die Vergangenheit kopieren heißt, sich als Greis zu schminken.“
„Der Baum der Erinnerung überschattet die Natur, der Fortschritt reift nur unter den Gesetzen der Zukunft.“
Allerdings wird an ebensovielen Stellen deutlich, daß es Saint-Pol-Roux nicht (wie später Marinetti) um blinde Aggression gegen die Vergangenheit zu tun ist. Das ganze Stück ist der Versuch einer großartigen Synthese vieler sich scheinbar widersprechender Aspekte. So auch in diesem Fall: „Der Schmetterling der Zukunft (verbirgt sich) in der Raupe der Vergangenheit.“
Auch den Gegensatz von Tod und Leben versucht Saint-Pol-Roux zu vereinbaren, z.B. wenn er den Tod sagen läßt: „Wenn ich nicht der Tod wäre, würde ich das Leben anbeten.“
Die wichtigste These allerdings, die Saint-Pol-Roux anstrebt, ist die mystischer (oder symbolistischer) und realistischer Dichtung.
Schon die für das ganze Stück geltende Bühnenanweisung macht dies deutlich:
„IM MITTELPUNKT DER MENSCHHEIT Aber an der Schwelle des Mysteriums.“
Damit ist die Dichtung schlag-wortartig umrissen, die Saint-Pol-Roux mit dem Begriff Ideorealis-mus bezeichnet hat: die Verbindung der materiellen Realität mit den Ideen der Phantasie.
Diese Synthese, sollte sie möglich sein, führt zu folgendem: „Plötzlich befreit von seinem schweren Abenteuer, entfliegt der Mensch in die alles durchdringende Übernatur.“ („la subtile surnature“)
Von diesem Begriff („la surnature ist man versucht eine Brücke zu schlagen zu seinem „surnaturalisme“ – einem Begriff, den Saint-Pol-Roux selbst verwendet hat – zu „surréalisme und diese Verbindung wird gewissermaßen legitimiert durch die spätere begeisterte Aufnahme der Werke Saint-Pol-Roux’ durch die Surrealisten.
6. Rückzug nach Camaret
Als Beispiel dafür soll hier kurz auf Saint-Pol-Roux’ ,Buch’ „Cinéma vivant’’ eingegangen werden, das Gérard Macé 1972 herausgegeben hat. Grundlage dafür waren zwei Hefte und eine größere Anzahl verschiedenformatiger Blätter, wo sich Saint-Pol-Roux Notizen zu diesem Thema gemacht hat. Während sich in den Heften noch eine gewisse Ordnung bemerken läßt (doch auch hier handelt es sich um eine Reihe kurzer und kürzester Abschnitte, deren Zusammenhang nicht immer klar ist), kann dies für die losen Blätter nicht mehr behauptet werden.
Macé bemerkte dazu in seiner Editionsnotiz:
„Letztendlich ist es der Zufall, der die Lektüre bestimmt.“
Wir müssen das Werk so nehmen, wie es vorliegt, und können nur annehmen, daß es Saint-Pol-Roux in dieser Form auch geplant hat.
Was Saint-Pol-Roux vorschwebte, war gewissermaßen eine Materialisation der Phantasie, die – „Der Schatz des Menschen“ (12) – für ihn die Quelle jeder Kunst, des Lebens überhaupt war. Dafür konnten die bisherigen Techniken der Kunstproduktion (Texte, dramatische Darstellung, Bilder, Skulpturen, Musik usw.) nicht mehr genügen. Eher schon das Kino, wo die ,Bilder laufen’. Aber hier ging Saint-Pol-Roux weit über das hinaus, was er als Kino kannte, was wir heute davon kennen. Die Gegenstände der Phantasie sollen direkt Leben gewinnen, wie in einem großen, dreidimensionalen, alle Sinne ansprechenden Film, der vor und um den Betrachter abläuft, der wiederum selbst Bestandteil dieses Films ist. Saint-Pol-Roux ‚glaubte’ an eine materielle Substanz, die die Gegenstände der Phantasie bildet und die durch einen noch zu entwickelnden Projektor – „ldeorealisator“ – zugleich sichtbar, fühlbar, erlebbar gemacht werden sollte. „Aber wie solche Bilderwesen schaffen und sie in den Raum und in die Zeit werfen? Das ist die Angelegenheit der Wissenschaft, die der Phantasie nachfolgt.“
So einfach ist das. Leider entwickelte die Wissenschaft nicht den Ideorealisator, der die Kunst hätte lebendig machen können, sondern andere Geräte, die das Leben zerstören. Saint-Pol-Roux’ Hoffnung auf die Wissenschaft war bis zu seinem Tode ungebrochen, er glaubte, vom Wissenschaftler verlangen zu können, den Prophezeiungen des Dichters eine Gestalt zu geben; wenn auch nicht immer klar ist, ob diese Überlegungen viel-leicht nur metaphorische Gedan-kenspiele waren.
Was Saint-Pol-Roux suchte, war eine Möglichkeit, der Phantasie in all ihren Dimensionen Wirklichkeit zu verleihen. Darin, im Ideorealismus, sah er die wichtigste Aufgabe der Kunst, wichtiger als eine ,Aufzählung von Städten, Türmen, Bahnhöfen, Fabriken, Autos, Flugzeugen, Schiffen, U-Booten, Untergrundbahnen’. Es ging ihm nicht darum, die Gegenstände der Realität aufzuzählen, sondern um eine Kombination von Phantasie und Realität, um dadurch den dieser Welt zugrundeliegenden Widerspruch zu beseitigen, den Widerspruch zwischen Geist und Materie. Für Saint-Pol-Roux, war die materielle Welt nur unvollkommene Materialisation des Geistes’ (Gérard Macé), der Ideoreatismus sollte diesem Zustand ein Ende bereiten.
8. Der große Einsame in Camaret und die Surrealisten
Es war nicht so, wie man viel-leicht annehmen könnte, daß Saint-Pol-Roux in seinem Haus in Camaret ein vollkommen zurückgezogenes Leben geführt hat. Das hätte seinem Ziel, Idee und Realität zu verbinden, widersprochen. Saint-Pol-Roux’ Gastfreundschaft, seine Freundlichkeit, sein Sympathie ausstrahlendes Wesen waren allen bekannt, die ihm begegnet waren. Er hielt Kontakt zu einer Reihe von Schriftstellern (darunter Max Jacob), veröffentlichte gelegentlich in Literaturzeitschriften (z.B. in „La Revue de l’Ouest“, „Le grand jeu“), beteiligte sich an Literarischen Aktivitäten in der Bretagne und Paris. 1932 erhielt er das Band der Ehrenlegion, das Apollinaire bereits 1910 für ihn gefordert hatte. Trotz alledem bildete sich mit der Zeit die Legende vom großen einsamen Dichter in Camaret, der dort, vergessen und zurückgezogen von der literarischen Öffentlichkeit, an seinem großen Werk arbeitete.
In seinem Artikel „Le maître de l’image“ bezeichnet Breton ihn als „le grand solitaire“, in dessen Werk sich Weisheit und Genie vereinen. Saint-Pol-Roux hat dieser Legende gewiß nicht entgegengewirkt, und man findet in seinem Nachlaß Aphorismen, die diese Legende bestätigen könnten: „Es sind die Einsamen, die das Gleichgewicht der Welt bewahren, weil sie am Angelpunkt, weil sie die Zentren sind.“ „Die Einsamkeit ist die Verviel-fältigung des Ichs.“ Allerdings wäre Saint-Pol-Roux wohl nie auf den Gedanken gekommen, aus der Haltung einen Mythos zu machen; für ihn war sie einfach Grundlage seiner Arbeit. Für André Breton und die Surrealisten war diese Haltung ein wichtiger Grund für ihre Bewunderung. Sie – als die letzten Nachfahren der Romantik – sahen in Saint-Pol-Roux den idealen Dichter, der, unabhängig von allen Zwänge, die Welt verändert. Ebenso wichtig war für sie aber auch Saint-Pol-Roux’ Theorie, der Ideorealismus, der ja von ihm selbst gelegentlich als „surnatu-ralisme“ bezeichnet wurde. In Saint-Pol-Roux’ Ziel, Phantasie und Realität durch die Kunst zu vereinen, sahen die Surrealisten die Vorwegnahme ihrer Vorstellungen. Breton erinnert in der „Hommage à Saint-Pol-Roux“ an dessen Bühnenanweisung zu „La Dame à la faulx“: „En pleine humanité, mais au seuil du mystère“; er vergleicht Saint-Pol-Roux’ Behauptung, das Werk sei nur eine unvollkommene Erinnerung an die Konzeption und die beste Haltung sei es, nicht zu realisieren, mit dem, was Paul Valéry in seinem „Monsieur Teste“ geschrieben hat. Breton sah in Saint-Pol-Roux den einzigen noch lebenden Dichter einer vorangegangenen Generation, der in die Debatte der Surrealisten hätte eingreifen können, in die Diskussion über „Ordnung oder Abenteuer, Vernunft oder Divination, Abendland oder Orient, Knechtschaft oder Freiheit, Nicht-Traum oder Traum.“
Im Ersten Manifest des Surrealismus taucht Saint-Pol-Roux zwei-mal auf. An einer Stelle berichtet Breton, daß Saint-Pol-Roux, wenn er schläft, ein Schild an seine Tür hängt, worauf zu lesen ist: ,,Der Dichter arbeitet“. Dies, mag es auch von Breton zur Legende vom großen Einsamen in Camaret hinzugefügt worden sein, entspricht den Forderungen der Surrealisten, die die ,Traumarbeit‘ zu einer wichtigen Grundlage ihrer Kunst machen. An einer anderen Stelle des Manifestes heißt es:,, Saint-Pol-Roux ist surrealistisch im Symbol“. Auch hierin – in Saint-Pol-Roux’ kühnen Symbolen, Bildern und Metaphern (für Breton war er der ,Meister des Bildes) – erkannten die Surrealisten einen ihrer großen Vorläufer.
9. Der sanfte Avantgardist
Saint-Pol-Roux war ein Avantgardist. Er war es in seiner Pariser Zeit, er war es in seinem zurückgezogenen Leben in Camaret. Vieles von dem, was die Avantgardisten der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts so lautstark verkündeten, hatte er in seinem Werk vorweggenommen. Er verabscheute jedoch die „latente Gewalttätigkeit der Avantgarde’ (H.M. Enzens-berger) und das großsprecherische Imponiergehabe ihrer Vertreter. Still verfolgte er seinen Weg, der deswegen nicht weniger revolutionär wär. Es wäre an der Zeit, sich auch in Deutschland mit dem Werk dieses Dichters zu beschäftigen.
Joachim Schultz
* * *
Anmerkungen:
1. Saint-Pol-Roux, une étude de Théo-phile Briant avec un choix de textes, des illustrations, une chronologie bibliographique: Saint-Pol-Roux et son Temps. Paris 19S2, 1971 (= Poetes d’aujourd’hui No. 28)
2. S.P.R. beschreibt diese Situation in dem kurzen Prosatext „Le monstre et le lutin“ in: ,,Les Reposoirs de la Procession“ I. La Rose: et les épines du chemin. Préface de Gérard Macé 1980, Limoges, S.31-36
3. Vergleiche Briant, op. cita. S.68
4. In: Mercure de France (février 1892) S. 97-104. S.P.R. De l’art magnifique Suivi de Réponses et de Petit traité de déshumanisme. Texte établi de Gérard Macé, Limoges, 1978, S.9-17 Ebd. S. 10
5. Ebd. In: S.P.R. Les Reposoirs de la Procession, Paris 1893, S.15
6. Zit. nach: Informationen. Sonderheft documenta 5. Kasse! 1972 S.42
7. Vgl. Léon Blum, le gout de classique, In: La Revue Blanche No.27 (jan. 1894) 5.29-40. Marcel Proust, Contre l’obscurité. In: La Revue Blanche No.75 (15 juillet 1896) S.69-72
8. Erschienen in drei Bänden 1901, 04, 07. Siehe Anm.2. Den Text „Le poète au vitrail“ findet man in: S.P.R. Les Reposoirs«...» III. Les Féeries intérieurs. Postface de Michel Décaudin. o.O. 1981 S.13-15
9. Ich beziehe mich im folgenden auf: S.P.R., La Dame k la faulx. Version Théatrale inédite. Précédée de lettre 6 Jacques Rouché. Présentées par Yves Sandre, Limoge 1979
10. übersetzt nach: S.I.Lockerbie, Alcools et le symbolisme. In: La Revue des Lettres modernes. No.85-89. Paris 1963, S.5-40. Hier S.7
11. Vgl. S.P.R. Le Tresor de l’homme. Préface de A .Pieyre de Mandiargues Suivie de „L’Oeuvre en miettes de Saint-Pol-Roux“ par G.Macé 0.0.1970
12. Vgl. S.P.R. / Victor Segalen, Corres-pondance. Préfacée par A. Joly Segalen o.O.1975
13. In: Mercure de France, No.22 (octobre 1891), S.193-196
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DIESEN TEXT LIEGT BEIM AUTOR UND BEIM VERLAG ROLF A. BURKART!