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«Ich entdeckte einen Durchgang, in dem es nur einen kleinen Laden gab mit ein paar Artikeln ― Souvenirs, die, so kläglich sie auch waren, mir wundervoll erschienen ― und Bücher wie dieses: Die drei Haltungen der Nacktheit. Der Stich auf dem Einband zeigte einen Mann, über den sich zwei nackte Frauen beugten. Und eine Art «Grammatik», die von Saint-Pol-Roux kartoniert worden war: «Unterwegs in Russland mit meinem visionären Apparat.».
Eine Passage aus einem Traum, den der Dichter Paul Eluard 1933 seiner Geliebten mitteilt. Die darin vorkommende Person Saint-Pol-Roux gab es wirklich, und sie war zugleich auch eine sich in der Traumwelt bewegende und von den Surrealisten dort fixierte Figur. An ihr sahen sie vieles von dem leibhaftig vorgeprägt, was sie programmatisch für die Kunst zu formulieren versuchten. So benennt Eluards Traum sehr prägnant einige Eigenschaften der Idealfigur Saint-Pol-Roux, seiner Kunst und der seiner Nachfolger: Es ist die Rede von «einer Art <Grammatik>» (das deutet auf das besondere Interesse an der Sprache und deren Struktur hin); «Unterwegs in Russland» (das verweist auf den fundamentalen Streit um das politische Engagement bei Surrealisten); und der «visionäre Apparat» (das soll das Instrument der Kunst schlechthin sein). Saint-Pol-Roux vergleicht das dichterische Werk mit einer Familie, mit Städten und Ländern, er nennt es auch ein «Menschendrama», eine Konzentration menschlichen Ausdrucks ― eine energetische Verdichtung, gesammelte Energie: Das ist der Punkt, auf den viele seiner Definitionen hinauslaufen, der Punkt, der unmittelbar zu seinem symbolistischen Kunstverständnis hinzugehört und dieses gegen den platten Vorwurf des Mystischen schützt. Die universelle schöpferische Kraft, von der er ausgeht, hat in der Energie und über allem: in der Sonnenenergie ihr materielles Zentrum. Verbunden ist der Künstler mit ihm durch einen quasi-religiösen Akt, den der Gnade. Dass jede künstlerische Produktion eine Art Messe sei, hat also mit dieser Gnade und mit dem sich darin offenbarenden Göttlichen, dem Rituellen und Zeremoniellen zu tun. Es ist ein Fest der Sinne, des Geistes und des Glaubens.
«Nous voyons toutes choses en Dieu» (Wir sehen alle Dinge in Gott), dieser Satz des Philosophen Malebranche, zu Ende des 17. Jahrhunderts, taucht bei Saint-Pol-Roux ebenso auf wie die Lehre Platons; er möchte die Vorstellung der Ideen in unserer Seele als einen göttlichen Akt denken, der sich aber in der Einbildungskraft verselbständigen und von Gott lösen kann. Die Poesie emanzipiert sich in ihrer höchsten Gestalt von der Gebundenheit an das göttliche Prinzip. Das ist Saint-Pol-Roux' «Ideorealismus». Ihm huldigten viele Künstler in den zwanziger Jahren, und seinem Gründer zu Ehren gab man 1925 ein berühmtes Bankett.
Maurice Nadeau hat in der «Geschichte des Surrealismus» das damalige Ereignis rekonstruiert, bei dem die Surrealisten ihre Gegner und unerwünschten Gäste ― Nachzügler des Symbolismus, Konservative und Reaktionäre ― beschimpften und aus dem Liebesmahl für Saint-Pol-Roux eine Demonstration gegen Frankreich machten. «Man beginnt eine Schlägerei, Soupault hängt sich an den Kronleuchter und räumt mit den Füssen die Tafel ab, Michel Leiris brüllt aus dem Fenster «Frankreich verrecke!» und wird auf der Strasse fast gelyncht. Die herbeigerufene Polizei prügelt mit.» Saint-Pol-Roux war der Einladung in die «Closerie des Lilas» gefolgt, aber wieder gegangen, als alles unwiderruflich in Chaos geraten war. Er gehörte einer anderen Generation an, und er war ein meditativer, religiöser Mensch. Seine Vorstellung von freundschaftlichen Begegnungen war anderer Art. So schrieb er seinen Freunden: «Kommt mit dem Dampfer Quélern-Roscanvel ― Ich werde auf der Laderampe auf Euch warten.»
Wie er sie empfing, hat die Tochter des Ethnologen und Dichters Victor Segalen, Annie Joly-Segalen, eindrücklich erzählt: Wie eine Galionsfigur habe er dagestanden, von prächtiger Statur und ganz in schwarzen Samt gehüllt. Den Gästen, zu denen auch Victor Segalen gehörte, rief er schon von fern Willkommensgrüsse zu.
Das Interesse am Fremden und Magischen hatte Saint-Pol-Roux und Segalen zusammengeführt und zu engen Freunden gemacht, auch wenn Segalen später in seiner Ästhetik von Saint-Pol-Roux etwas abrückte, insofern er ihn noch zu sehr im Exotismus seiner Zeit verhaftet sah; Segalen wollte mit seiner «Ästhetik des Diversen» darüber hinausgehen. Einig waren sich beide in der Ablehnung des platten Exotismus eines Pierre Loti. So rät Saint-Pol-Roux 1904 dem Südsee-Reisenden: «Es ist Ihre Aufgabe, aus Ihrem Eingeborenen Maori eine Art naiven und tragischen Homer zu machen. Loti hat uns den offenbar oberflächlichen, vielleicht sogar falschen Zauber von dort unten geschildert; es ist an Ihnen, davon das Epos, die legendäre und philosophische Wahrheit zu überliefern, die einfache und monströse Seele, das brüllende Blöken: die letzten Tage des Paradieses!»
Das Monströse, die Expression, der Schrei ― das waren bei Saint-Pol-Roux Mittel der Kunst, keine Formen des Umgangs mit anderen. So ist sein Anschluss an die Surrealisten eher über Novalis' Rede von der Einbildungskraft als «wunderbarem Sinn» und Nervals «supernaturalistischen Träumereien» verstehbar als über die Aktionen und Auftritte der Surrealisten. Deutlich muss darüber hinaus auch der Unterschied zu der Art gewesen sein, wie die Surrealisten miteinander sprachen, etwa zu Robert Desnos, von dem Breton sagte: «Desnos redet surrealistisch.» Wenn Breton im ersten Manifest des Surrealismus schrieb: «Saint-Pol-Roux ist surrealistisch im Symbol», so hiess dies auch, dass er Surrealist in der Poesie und Poetologie, weniger aber im kulturellen Leben war.
Saint-Pol-Roux lebte einsam und zurückgezogen. 1930 fasste er seine Lebenseinstellung so zusammen: «Meine Zurückgezogenheit könnte man folgendermassen erklären― Da meine Ideen mir vorauseilen, lebe ich, wie mir scheint, inmitten noch nicht geborener Wesen. Ich wohne also in einer noch nicht eröffneten Epoche, nur in ihr fühle ich mich wohl. Ich sage das in aller Naivität: Denn wer könnte mich zwingen, so weit entfernt von den Menschen der gegenwärtigen Epoche zu leben? In Wahrheit fühle ich mich als Zeitgenosse künftiger Generationen, zu ihnen spreche ich, für sie denke ich.»
Sein Misstrauen und seine Gleichgültigkeit gegenüber der Zeitgenossenschaft und dem Ruhm, sein Wunsch, von der Gegenwart verkannt werden zu wollen, erinnern an den pointierten Satz des rumänischen Philosophen und Dichters E.M. Cioran: «Der Ruhm ist die grösste Strafe des Menschen.» Der Ruhm führe ihn weg von seinen nur ihm eigenen Ideen, von der konzentrierten Einbildungskraft. Saint-Pol-Roux forderte die kontemplative Haltung, um sich an das zu erinnern, was wert ist, gesagt und gezeigt zu werden. Der Kontemplation benachbart ist der Traum. Und ganz im Sinne Sigmund Freuds, der von der Traumarbeit im Unbewussten sprach, soll Saint-Pol-Roux, wenn er schlief, ein Schild an seine Tür gehängt haben mit dem Satz: «Der Dichter arbeitet.» Jedenfalls erzählt es André Breton. In der Art, wie die Surrealisten ihren Zugang zur Kunst und zum Produzieren verstanden, konnten sie auf Saint-Pol-Roux' Zustimmung hoffen.
Augenblick des
Schöpferischen
Breton hatte unter dem Titel «Geheimnisse der surrealistischen magischen Kunst» Anweisungen für das spontane, passive und rezeptive, das automatische und schnelle Schreiben gegeben. Ein surrealistisches Spiel mit Worten und Assoziationen, bei dem der erste Satz ausschlaggebend ist und das Thema vorgibt. Die «Unerschöpflichkeit des Raunens» wurde jedoch von Breton und anderen modellhaft ausgebaut und systematisiert. Gerade dieses Modellhafte und Programmatische freilich, die nahezu didaktische Anweisung zur Bilderzeugenden Tätigkeit, war Saint-Pol-Roux fremd. Zu sehr sah er den schöpferischen Augenblick als einen göttlich inspirierten an. Aber der Vorrang des Bewusstseins gegenüber dem Unbewussten und den Bildern war auch bei ihm schon aufgehoben. Auch hatte das schöpferische Subjekt seine Autonomie eingebüsst ― was aber bei Saint-Pol-Roux nicht zur Kollektivität des Produzierens in einer Gruppe, sondern zur Zwiesprache mit dem Heiligen und Göttlichen führte. Vereint waren sie im Protest gegen Entmischung, gegen Vereinfachung, Reproduktion. Saint-Pol-Roux, der Meister des Symbols und des Bildes, der Einbildungskraft und Imagination, einer der grossen Einsamen, «die das Gleichgewicht der Welt bewahren, weil sie am Angelpunkt, weil sie die Zentren sind». Michel Leiris hat ihm eine Hymne, eine Hommage geschrieben: «Hommage à Saint-Pol-Roux le Veritable. Zwischen den Steinen der Legenden und den kostbaren Vliesen der Mythen, die dauerhafter sind als die Kontinente, hat sich ein Mann erhoben, dessen Stimme sich unseren geologischen Gehirnen anbietet wie die Ader eines seltenen und unterirdischen Metalls. Mögen sich die falschen Propheten mit ihrem Gefolge lügnerischer Opfer verschlingen, mögen zu unserer Linken die unheilbringenden Vögel auf ewig entfliehen, er wird immer unseren Herzen nahe bleiben, er, dessen Finger, die die Zauberkraft des Wortes zu bannen vermögen, sich nur für die edle Aufgabe krümmen, Gebäude der Zauber und der Beschwörungen zu errichten.
Weit über dem Herrschaftsgebiet des Materiellen, wo der Tod sein organisches Gepäck sauber gefeilter Knochen und steinerner Inkarnate ablädt, höher selbst als die Welt unseres Denkens verklingt seine Stimme in den blutenden Sphären des Verlangens, ein schneller Pfeil, dessen starre Spitze eine immer schwärzer werdende und höher steigende Atmosphäre in schräger Bahn zerreisst.»
Saint-Pol-Roux, eine prägnante Figur, die andere Künstler faszinierte und sie zu wahren Lobpreisungen hinriss, war über Jahrzehnte hinweg weitgehend vergessen. Seine Person sich wieder zu vergegenwärtigen, sein Werk wieder zu lesen: Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Spurensuche.
Natürlich ist es seine Sprache, die uns über viele Jahre von diesem Werk fernhielt, solange wir in der Sprache nur ein Werkzeug der Vernunft, einen Informationsträger und ein Mittel der Wirklichkeitsdarstellung sehen wollten. Saint-Pol-Roux' «Ideorealismus» oder wie er auch sagte «surnaturalisme», sein Symbolismus hatte da keine Chance. Trotz seines Bekenntnisses zu revoltierenden Bewegungen lässt sich keine politische Gruppierung der letzten Jahrzehnte denken, die sich ihm verbunden gefühlt hätte. Es ist ― um es etwas pauschal zu sagen ― mehr die postmoderne Absage an die Ratio, das verlorengegangene Vertrauen in Fortschritt und Vernunft, das wiedererwachte Interesse am Mythos, kurz: die Abkehr von der Eindimensionalität, die unsere Ohren wieder öffnet für diesen hohen Ton der Poesie, für die Produktionen des «Meisters des Bildes», wie Breton Saint-Pol-Roux nannte. Zuweilen schleicht sich in seiner Literatur das Bildhafte fast unbemerkt in Oberflächen, in scheinbar einfaches Erzählen ein; konzentriert das, was im Erzähler geschieht, in seiner Phantasie abläuft; so verdichten sich seine Bilder und Assoziationen zu einer Erzählung, wie etwa in dem Text «Der Ausflug»:
«Fortgehen heisst den Ort ausziehen, den man bewohnte: seinen Hut des Kirchturms absetzen, seine Tunika aus Wiesen ablegen, aus seinen Ärmeln der Hügel schlüpfen, seine Hose aus Pfaden mit den bewohnten Taschen ausziehen; und man wird geographisch-nackt bis zu dem neuen Ort, der uns den feinen Schleier seines Zaubers oder den schweren Mantel seines Schicksals reichen wird.
Bei unserer Abfahrt wirft das Zuhause seine tyrannische Leere auf uns, als wollte es uns die Nieren schröpfen; manchmal ist es schwierig, davon loszukommen, aber an einer unerwarteten Wegbiegung kann uns sein ausgestreckter Fangarm nicht mehr erreichen. Von da an bewegen wir uns immer schneller, angezogen von einer anderen Leere, die uns ― je näher wir kommen ― von vorn anzieht und uns immer stärker, bis zur völligen Abhängigkeit, fesselt.
Einem Messer gleich fahren wir in die Früchte aus Dörfern.»
Es ist auch der Witz und die Ironie, die überraschende Wendung, die durch den gekonnten Umgang mit der Sprache entsteht, die Freiheit in den Assoziationsketten, die diese Prosa aus einer literarischen Schablone heraushebt. Es ist nicht nur das poetologische Programm, das hier praktiziert wird, nicht nur die Offenbarung des göttlichen Funkens, sondern auch Leichtigkeit, Absurdität und Beiläufiges. Das ist wichtig festzuhalten, denn in Saint-Pol-Roux' Aufsätzen kommt diese Seite zu kurz. Hier dominiert ein hoher Ton, geprägt von einer grossen Fähigkeit, situativ, geradezu dramaturgisch konzipiert, Kunst zu vergegenwärtigen und Personen zu verlebendigen.
Das Poetische
und Pathetische
«Er wurde geboren von einer Stimme, vor einem Pult, am Rand eines Cembalos, nicht weit entfernt von der Orgel der Paulaner mit Pedalen ähnlich den Ochsen im Stall, mit Tasten gleich weissen und schwarzen Vögeln auf den Zweigen.» Die Rede ist von Beethoven. Der Titel des Textes «Die Seele Beethovens» und diese ersten Sätze geben bereits den Ton von Saint-Pol-Roux' Essays an: Das Poetische, Hymnische, auch Pathetische. Aber das Pathos ― man weiss es schon von der Prosa so unterschiedlicher Dichter wie Hans Henny Jahnn oder Reinhold Schneider ― muss der Erkenntnis und der Schönheit nicht abträglich sein. Das Pathos ist, wird es getragen von einer Ergriffenheit, die das Sujet zum Sprechen bringt und es nicht artifiziell auflöst, eine Ausdrucksform des lyrischen und erkennenden Ich.
«Er wurde geboren von einer Stimme, inmitten von Pulten, nahe einem Cembalo ...» Saint-Pol-Roux nimmt den Einleitungssatz wieder auf, variiert ihn, lässt sich von seinen Bildern, Imaginationen und der Sprache leiten. Der einfache Hauptsatz ist die Grundeinheit, die wie ein Kristall zu glitzern beginnt und wie ein Material behandelt wird, aus dem neue Satzgefüge und Klanggebilde ― auch in Reihungen und Wiederholungen ― entstehen. Der Essay ist für Saint-Pol-Roux eine Komposition. Klang, Rhythmus, Vibration und Timbre bestimmen den Fortgang ebenso wie die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Die Sujets seiner Essays, wie sie in dem Band mit dem signifikanten Titel «Die Traditionen der Zukunft» zusammengestellt sind, kreisen zum einen um Beethoven (den er als Meister des Lyrischen, als Konstrukteur und «Erbauer von Kathedralen» verehrt) und um die Musik im allgemeinen:
«O Musik: Perlen der Ursprungswelle ...
Musik: Diadem auf der Stirn der Schönheit ...
Musik: Wort der Geistigkeit und Rede der Dinge ...
O ewige Musik, die die Brise des Windes ankündigt ...
Hörbare Königin der Wunder...
O Musik, deine Noten, diese Blutkörperchen des Lebens, verbinden sich mit den Ziffern der Erkenntnis, Ziffern der Mathematik, die wie Insekten davonfliegen, um das Mysterium der Ewigkeit anzuknabbern.»
Kunst ist
ewiges Werden
«Ist nicht die Kunst, wie alles, ein ewiges Werden?», schreibt Saint-Pol-Roux an seinen Freund und Wahlverwandten, den Südsee― und Asien-Reisenden Victor Segalen, der sich ja auch, wie er, den grössten Teil seines Lebens von der Metropole Paris ferngehalten hatte und mit dem er einen umfangreichen Briefwechsel führte. «Sehen Sie, das Höchste an Kunst, in der Literatur, kann durch ein Zusammenspiel erreicht werden, ein Zusammenspiel, das auf der ganzen individuellen Energie beruht, das, so möchte ich sagen, aus den vereinigten Sinnen entsteht und schliesslich kontrolliert wird von dem, was ich einst als den «Vatikan der Sinneseindrücke» bezeichnet habe, also vom Geist. Ja, die Traube der Sinne, die vom Geist gekeltert wird ― so entsteht der Wein des starken Ausdrucks.»
Dieser Ausdruck sei von einer Einheitlichkeit, die auch in der Gestalt einer «pantheistischen Trunkenheit» auftreten könne und in der Seele des Lesers wie ein «Filmprojektor» wirke. Die Vielfalt und Überlagerung der Sinne, der «synthetische Ausdruck» (ein Akkord, der aus mehreren, gleichzeitig angeschlagenen Tönen besteht) ― das zeichne die avantgardistische Literatur aus, die wie Blitze wirken müsse.
Mit Segalen verbunden wusste sich Saint-Pol-Roux in der Hochschätzung des Symbolismus und in der Verehrung für Gauguin und Rimbaud: Reiste Segalen auf deren Spuren im Pazifik und im Osten Afrikas, erteilte ihnen Saint-Pol-Roux die «Weihe» aus der geographischen Ferne: In Rimbaud sieht er die Einbildungskraft gleichsam personifiziert, so wie sich für ihn Mallarmé unauslösbar mit dem Geheimnis und Verlaine mit der Liebe und auch dem Instinkt verbindet. Er will Rimbaud, diesem «panischen Geist», einen Tempel aus Worten bauen, ihm einen ewigen Ort in der Geistesgeschichte zuweisen, auf dass er nicht mehr der Vagabund, sondern der «dritte Gott» neben Verlaine und Mallarmé werde.
Rimbaud ist ein Rosenkranz aus brüsken Sprüngen.
Er entwickelt sich nicht, er mutiert. Verlaine entwickelt sich, Rimbaud mutiert.
Sie sind die zwei Verfluchten eines unbekannten Himmels.
Rimbaud sagt: «Ich allein habe den Schlüssel zu dieser wilden Parade.» Rimbaud, das ist Orpheus, der die Höllen getrunken hat (die Vokale sind die Saiten seiner Lyra).
Auf Knien, schleudern wir den keltischen Schrei:
«Arthur ist nicht tot! Er ist in uns.»
Oft beginnen oder enden Saint-Pol-Roux' Essays in Notaten, Satzsplittern, Wortfetzen, symbolistisch überhöhten und mystisch verdichteten Anspielungen auf das andere, das Höhere, das grandiose Selbst eines von ihm verehrten Künstlers. Dann ist der Sprach-Raum nur so erfüllt von Göttern, Königen und Magiern, von Liebe, Schönheit, Seele und Geheimnis. Der Sinn wird evoziert, nicht erläutert. Das Geistige blitzt auf, ohne eine eindeutige intelligible Struktur. Die Chiffre dominiert. Zuweilen entsteht eine Welt aus Wörtern wie bei Ezra Pound, aber weniger aus der Überschärfe des Geistes und der Bildung als aus der der Empfindung gewonnen. Weniger gemeisselt, runder, elastischer, manchmal auch Kitsch ― jedenfalls für unsere Ohren. Es ist der Ton der Anrufung, der ihn zuweilen von den Sujets entfernt und sich autonom setzt. Die Sprache beginnt dann solipsistisch in sich selbst zu kreisen.
Verlaine, Rimbaud und Mallarmé seien im «Azur der Glorie» vereint, Rimbauds Tinte sei «aus Licht», seine Feder «der Sonne entsprungen», seine Wörter «nackt», und er selbst sei «wie zu Anbeginn in der Morgenröte geschwommen»; ein «König der Schönheit». «Rimbaud jonglierte mit den Gestirnen.» Ja, aber er jonglierte auch mit Waffen. Er war nicht nur König der Sprache und der Bilder, sondern auch Geschäftsmann, Kolonialist. Entmythisiert hat ihn zuletzt Hubert Fichte.
Die Traditionen der Zukunft, die Fixpunkte von Saint-Pol-Roux' Ästhetik und einer Ästhetik der Zukunft, wie er sie versteht, sind in der Literatur also an Verlaine, Mallarmé und Rimbaud gebunden.
Progression, Modernität und Genialität sind für ihn Aspekte des Himmlischen, Göttlichen, Höchsten, des Jenseits ― ein Jenseits auch der bekannten Gesetze und Normen, eine Totalität und Absolutheit. Einen Zugang zu diesem Reich bilden die Symbole, die er aber ganz folgerichtig in seinem Denken nicht von deren Vergangenheit her definiert; er nennt sie vielmehr «Embleme der Zukunft». Das Symbol und das Wort sollen rein wie ein Samenkorn sein. Er liebt und verehrt darin den «ureigensten Ausdruck der Menschheit».
Das Zukünftige
als Masstab
Saint-Pol-Roux ― ein leidenschaftlicher Verehrer der Wortkunst und des Schöpferischen, des Genies und der Meisterwerke. Viele seiner Formulierungen sind von einer religiösen Entzückung gegenüber dem kreativen Hervorbringen, dem Erschaffen von Wort, Bild und Klang geprägt. Künstler belegt er mit Metaphern wie Sonne, unteilbarer Orpheus, Seelen, Propheten und Priester. Über die Kunst findet er Zugang zum Leben; er liebt das Leben, weil er möchte, dass die Künstler das Leben lieben und die Weite des Universums erfassen und fühlen. Er stellt sich eine Ode-an-die-Freude vor, von allen Künstlern intoniert. Ein Universal-Rhythmus. «Symphonie des Universums». Das will er 1933. Fernab in Brest. Ein paar hundert Kilometer östlich wird gerade eine ganz andere Symphonie, die des Tausendjährigen Reiches, geprobt. Auch hier denkt man die Gegenwart von der Zukunft her, vom Glanz eines grossen Reiches. Welch eigenartige Kongruenz, bedenkt man auch noch, dass Saint-Pol-Roux grosse Feldherren als «Künstler» bewunderte.
«Die Traditionen der Zukunft» ― das war Saint-Pol-Roux' Formel. Die Tradition hat ihre Wurzeln in der Zukunft; denn das Zukünftige, das Ferne und die Überschreitung ― das ist ihr Mass, gleichsam ihre Triebkraft, aus der sie schöpft. Tradition ― das ist ein Konglomerat von Evolutionen und Revolutionen, von Umstürzen, aus denen sie sich immer neu entwickelt; die Gesetze, nach denen das Genie arbeitet, liegen im Zukünftigen. «Und seht: Die meisten der grossen Männer haben kein Grabmal gehabt, oder sie sind ihm entflohen. Von diesem hat man die Asche in alle Winde zerstreut. Von jenem hat man ... Mozart ist ins Massengrab geworfen worden. Was Christus betrifft: Er hat sich den Luxus der Wiederauferstehung geleistet. Die Genies ziehen es vor, in der ihnen eigenen Welt zu leben.» Sie werden dazu geradezu von ihrem Auftrag gezwungen. Gebunden an das (ewige) Mass der Absolutheit und die (historische) Herausforderung zur Revolte ist der Künstler zu ungeahnten Schöpfungen, zu einem «plötzlichen Entreissen» des Unbekannten befähigt. Saint-Pol-Roux erzählt von einem japanischen Maler, der seine Striche und Farben «mit einem Gefühl behauchte» und so zu einer Art «Seelen-Geber» wurde: Auf diese Weise begannen unabhängig von ihm seine Meisterwerke zu leben und er selbst lebte in ihnen weiter. Im Spiel des Lichts und dem der Worte wirken Elemente, Ursprungskräfte und Grundprinzipien, ein «universeller Rhythmus», der auch Produzent und Rezipient vereint. Saint-Pol-Roux wünschte sich die im Meisterwerk vereinte Gemeinde von Schöpfern und Kunstfreunden, etwa so wie in Keyserlings «Schule der Weisheit» oder im erlesenen Kreis um Stefan George. Saint-Pol-Roux glaubte an die grenzenlose, grenzenüberwindende Kraft der Kunst, an ihre Möglichkeiten zur Überwindung des Materiellen im Spirituellen und Sensitiven. Seine Sinnesorgane durchdringen gleichsam die Materie. So beginnt die Erzählung «Der Ausflug» programmatisch: «Beim unbedeutendsten Aufbruch entsteht in uns der vage Wunsch, allem offen und schön entgegenzutreten: Türschwellen, Bäume, Schaufenster, Flüsse, Schilder, Plakate, Menschen vor Portalen der Schulen oder Kirchen, Herden, Vogelscheuchen, Calvaires, wahrscheinlich sogar Ideen, die auf uns zurückkommen.» Saint-Pol-Roux ist vom Schauen, Hören und Fühlen besessen. Und er will die Sinnesorgane erweitern und transformieren. Steine sprechen und verlieren ihre Schwere, die Himmel empfangen uns. Wir werden zu «verzauberten Gästen» der universellen und künstlerischen Schöpfung. Höchstes Ideal ist das «Meisterwerk der Meisterwerke», das alle Farben des Sonnenprismas in sich vereine und «als letzten Eindruck eine der Leinwand entsprungene Lilie des Lichtes gibt».
Auf die Dichtung bezogen: Sie soll ― in ihrer meisterhaften Form ― Geschmack, Duft, Ton, Licht, Form in einem sein. In diesem Sinn zelebriert der Künstler, «ob er es will oder nicht, eine Messe». Er bringt das Licht in sich zu einem bis dahin nie gesehenen Strahlen. Die erdachte Sonne lässt die wirkliche Sonne hinter sich. Wir müssen zwar die äussere Natur befragen, aber mit der inneren antworten. Gemeinsamer Punkt ist die Natur, das Leben, aber der Künstler macht in sich den «magnetischen Punkt» aus, wo seine Bilder und Imaginationen, sein geistiges Handeln, seine ästhetische Kraft und sein «Instinkt für Ewigkeit» einen synthetischen Ausdruck finden.
«Wenn das Talent genau ist mit der Natur, so ist es das Genie nicht; oder vielmehr: Es ist mit sich selbst genauer als mit der Natur. Das Genie erweitert, verlängert, vergrössert den Raum durch seine Ausstrahlung, es ist ein Quadrat, das sich zur Hypotenuse gesellt, oder vielmehr eine Kugel, die sich an die Tangente hängt ... Im heiligen Augenblick macht der Künstler einen Schritt der Bewunderung hin zur Natur, die Natur einen Schritt der Wohltätigkeit hin zu ihm.»
Hier öffnet sich wieder der Blick auf das Verhältnis von Natur und Kultur. Saint-Pol-Roux hat es so oft angesprochen. Er, der Verehrer von Sonnenenergie, wünschte sich nichts mehr als die Harmonie von Mensch und Umwelt. Dass diese Beziehung fundamental gestört war, stand ihm deutlich vor Augen.
Saint-Pol-Roux, der eigentliche Paul-Pierre-Roux hiess und 1861 bei Marseille geboren wurde, starb 1940 einen tragischen Tod, der das Geheimnisvolle, um das sein Schreiben kreiste, in die Abgründe der politischen Wirklichkeit riss: Ein Soldat der deutschen Wehrmacht überfiel sein Haus, tötete seine Haushälterin und verletzte seine Tochter. Einige Monate später, am 13. Oktober 1940, starb er.
Durchblicke
Von Saint-Pol-Roux
Diese kleine Brücke von Kerloc'h setzt uns eine Haube auf, die gleich wiederverrutscht.
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Gleich zu Beginn fahren wir mit einer solchen Geschwindigkeit in diesen frischen Morgen, dass ich in der ersten Waschküche niese und mir mit der Wäsche der zweiten die Nase putze ...
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Wenn einer eine Reise unternimmt, irgendwohin, möchte er dann nicht das verborgene (kleine oder grosse) Amerika entdeckenen, dessen Kern sich im Innern eines jeden bildet? Dabei ist es ganz gleich, welches Land sich als erstes unserem Dünkel anbietet: wir sind ohne Zweifel sein Erfinder, und auch das zweite entspringt unserem Verstand. Er erschafft, so scheint es uns, die unbedeutendsten Gegenden, durch die wir fahren. Vor uns hat dies alles nicht existiert, nach uns wird es nicht mehr existieren. Der Reisende, der sich bis dahin unter dem Staube seiner Gewohnheiten übersah, entdeckt nun ― anstelle eines neuen Kontinents ― endlich sich selbst, vervielfacht in den blank polierten Knöpfen des ersten Polizisten, der die Papiere verlangt.
Das Auto wirkt in seinem furchterregenden Flug über das Brett der Strasse wie ein Hobelschub, und die Fussgänger spritzen wie Hobelspanknäuel an den Strassenrand und in den Graben.
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Wenn eure Hand das Wort Aventure nachzieht, bemerkt ihr dann im A den heimatlichen Kirchturm? Erkennt ihr danach im mit glänzend gezeichnetem Querbalken den Mast und die Rahe eines Schiffes, das zwischen den Wogen schlingert, drei vor dem Bug und drei hinter dem Heck? Wenn euer Blick nur ein wenig verweilt, werdet ihr bald sehen, wie das Schiff aus der Tiefe des v in die Tiefe des u stampft, dann umgekehrt, bis es schliesslich den beiden Sturzwellen des n entkommend, am Pfahl des rmit den Ringen der beiden e festmachen kann. Indessen klingt, klingt, klingt vom Balken des A ein liebliches Angelusläuten.
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Die Jugend bricht auf, doch das Alter kommt an.
Je weiter wir uns körperlich von dem entfernen, was uns teuer ist, um so näher kommen wir ihm geistig.
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Eine Elster fliegt über die Strasse und schreit: Nicht so schnell, sonst lande ich im erstbesten Briefkasten!
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Symbol der Maschinengeschwindigkeit: durchgebrannte Holzpferde im Gänsemarsch.
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