Werkausgabe in 16 Bänden herausgegeben von Rolf A. Burkart und Joachim Schultz |
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das einsame Schloß am Meer samt „kosmopolitischer" Inneneinrichtung aus fernen Landen, seine Haustiere, die gezähmten Seevögel Heol, Noriot und Thalassa, seine Kinder mit den klingenden Namen Coecilian, Loredan, Magnus und Divine, seine Aufsätze, Aphorismen und Dramen — alles Steine für einen gigantischen Bau: für das Gesamtkunstwerk Leben. Ein Kunstwerk ganz besonderer Art: Kunstwerke zu schaffen mag schwierig genug sein — Kunst, Werk und Leben als Gesamtes zu vereinen ist ein Projekt, für das acht Türme am Meer bei genauerer Betrachtung eine geradezu bescheidene Ausgangsbasis abgeben. Mehr als dreißig Jahre, von 1905 bis zu seiner Ermordung durch einen deutschen Bäckermeister in Wehrmachtsuniform im Jahre 1940, hat Saint- Pol-Roux in diesem selbsterschaffenen Reich regiert. Der einzige und sein Eigentum, eine Theorie und ihr lebendes Exempel. Vieles blieb dabei auf der Strecke: die literarischen Salons der Hauptstadt, Anerkennung, Ruhm und Geld. Für den Meister war das Sache der Kleinmütigen, der „spöttelnden Zwerge", der „Vermessungsbeamten" mit mathematischem Herzen. Mochten andere wie der Dichter Soupault auf Festbanketten publikums-wirksam am Kronleuchter baumeln, mochten sie wie der Freund Segalen das Leben in der Südsee erforschen oder sich wie der Saint-Pol- Roux-Verehrer Breton durch Manifeste hervortun — dem einsamen Mann in der Bretagne ging es um mehr: Ihm ging es ums Ganze. Und dafür war noch nie ein Preis zu hoch. Für Saint-Pol-Roux besteht dieser Preis genau besehen sogar aus zwei Preisen. Nummer eins: Kaum jemand kennt Saint-Pol-Roux. Weder in Deutschland noch in Frankreich. Sein Werk, in den siebziger Jahren in einem kleinen französischen Provinzverlag neu aufgelegt, wird von der Pariser Intelligenzija weitgehend ignoriert; den fünf unlängst in einem Berliner Kleinverlag erschienenen Bänden einer geplanten sechzehnbändigen Gesamtausgabe ist in Deutschland bisher ähnliches widerfahren. Sein wichtigstes Werk, das Drama „Die Dame mit der Sense", ist bis heute von keinem Theater gespielt worden. Und zu Lebzeiten verdiente sich der Dichter des Absoluten sein Geld in erster Linie als Ghostwnter für den damals populären Erfolgsautor Pierre Decourcelle. Preis Nummer zwei: Der Dichter Saint-Pol- Roux, dem es ums Ganze und die Wahrheit ging, wußte noch nicht, was heutzutage jeder weiß: Das Ganze ist das Unwahre (Achtung, Zitat!) — womit gesagt sein soll, daß Preis Nummer zwei gleichzeitig als der wahre und ganze Grund für die betrüblichen Ausmaße von Preis Nummer eins anzusehen ist. Mit anderen Worten: Der gigantische Mißerfolg des Autors Saint-Pol- Roux scheint eine direkte oder indirekte Folge des gigantischen Anspruchs seines ästhetischen Programms zu sein. Oder? Saint-Pol-Roux war schließlich nicht der erste und nicht der letzte Dichter und Denker, der die Welt über einen einzigen Riesenleisten spannen wollte: Bei Hegel sollte alles im Weltgeist, bei Wagner im Gesamtkunstwerk, bei Mallarme in ein Über-Buch münden; und alle hatten sie — das Unwahre hin oder her — beim Publikum damit Erfolg. Warum also nicht auch Saint-Pol-Roux und sein „ideorealistisches" Vereinigungsprogramm? Ein strategischer Fehler: der Mangel an leserfreundlicher Didaktik und Poesie. Die bisher auf deutsch vorliegenden Bände — von dem Briefwechsel mit egalen und dem Band „Der Ausflug" einmal abgesehen — sind eine Art überdimensionierter Zettelkasten, eine ausufernde Aphorismensammlung zu des Dichters Lieblingsthemen: das Genie, die Einbildungskraft und das Wort. In variantenarmer Wiederkehr umspielt Saint-Pol-Roux in den Bänden „Der Schatz des Menschen", „Die Tradition der Zukunft" und „Res poetica oder die Republik der Poesie" in beschwörenden Tönen den ewig gleichen Grundakkord: die universale Vereinigung. Gemeint ist die Vereinigung von allem, was in der abendländischen Philosophie nur Rang und Namen hat: Materie und Geist, Kunst und Leben, Idee und Form, Gott und Mensch, Wort und Inhalt, Subjekt und Objekt, Besonderes und Allgemeines. Wahrlich kein bescheidenes Programm. In einer kommenden „Republik der Poesie", einem „Zeitalter der Sonne", vom Zukunftskünder Saint-Pol-Roux mit unprofessionellem Leichtmut noch für dieses Jahrhundert fest eingeplant ("ich werde mir nicht erlauben zu verkünden, ich kündige an") sollten die Gegensatzpaare westlichen zur ästhetischen Wiedervereinigung ablesen: Da Denkens nach dem Willen des Dichters in elysischer Eintracht miteinander grasen. Das Ganze ein Wiedervereinigungs-projekt, das — wie heute gang und gäbe — faßlich in nur zehn Punkten referierbar ist. Im Kurztext lautet das Programm: Das Genie (1) hat die Aufgabe, unter Mitwirkung seiner Einbildungskraft (2) dem Absoluten (3) im poetischen Bild (4) die Form (5) zu entreißen, damit Gott (6) und den universellen Rhythmus (7) zu kreieren und das bislng in Fesseln liegende Wort (8) von seiner Schmach als Kommunikationsmittel zu befreien und seiner ursprünglichen Jungfräulichkeit (9) wieder zuzuführen. Das Ergebnis dieser Tätigkeit nennt sich "Ideorealismus" (10), denn es hat eine Idee zur Realität gemacht. So einfach im Kurztext, Im Langtext liegen die Dinge etwas komplizierter. Im Langtext ist der sogenannte "Ideorealismus" des Saint-Pol-Roux eine besonders radikale Variante der um die Jahrhundertwende hochgehandelten symbolistischen Dichtungstheorien, die allesamt ihren quasi-religiösen Anspruch nie verleugnet, den Dichter als Sprachrohr göttlich-poetischen Geist verklärt — und damit als solchen annulliert haben. Was den wortbesessenen Symbolismus und die Poetik des Saint-Pol-Roux verbindet, läßt sich an den einzelnen Programmpunkten zur ästhetischen Wiedervereinigung ablesen: Da ist zunächst das Genie. Ein "armer Wicht mit Brille ... ohne Kleiderfirlefanz und ohne Frauen von Welt", der dem „Absoluten die Form entreißt", indem er seine „erhabenen Symbole ewiger Poesie" zu Papier bringt. Das Genie ist ein „Arbeiter des Absoluten". Das Genie ist Saint-Pol-Roux (andere Beispiele: Napoleon, Christus, Ludwig XIV., die Pharaonen). Dann das Wort. Das Wort war ursprünglich das „heilige Wort", das schon in der „Urstille" des Weltenanfangs in freier Wildbahn bestand und erst von bösartigen Schreibern domestiziert, mit einer „Zwangsjacke aus Lettern" umgürtet und zu seinem „Niedergang ins Buch" gezwungen wurde. Ein Straftatbestand, aus dem sich in zwanglosem Zwang die eigentliche Aufgabe des Genies ableitet: Befreiung des Wortes, Wiederherstellung des Urzustandes, in dem „das Ergebnis unmittelbar der Stimme folgte", das „Wort sich selbst entfaltete und der Inhalt sofort aus seiner Form hervorspritzte". Und hier genau liegt er, der strategische Fehler. Im bruchlosen Gelingen. Einige Tintenstriche genügen: Schon ist die Außenwelt zur Innenwelt, die Innenwelt zur Außenwelt geworden. Schon wird die Sprache des Menschen wieder zur Sprache überhaupt. Schon herrscht Einklang, Wohlklang, Gleichklang. Ganz wie in jener dunklen Nacht, von der uns ein anderer Absolutheitsfachmann verraten hat, daß in ihr „alle Kühe schwarz sind". Da gibt es nichts zu unterscheiden. Da kann nichts stören und nichts schmerzen. Doch leider hat das Glück wie so oft einen Haken: Man muß dran glauben. Nur wer den unzähligen Imperativen dieser Texte folgt, wer von ihren Heilversprechen nicht amüsiert, sondern affiziert ist
— den können sie erlösen. zurück zu PRESSESTIMMEN |