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SAINT-POL-ROUX
Werkausgabe in
16 Bänden

herausgegeben von
Rolf A. Burkart und Joachim Schultz





Ein Mann, ein Werk, ein Wort

Zur deutschen Werkausgabe des französischen Dichter Saint-Pol-Roux /
Von Iris Radisch

[DIE ZEIT, 09/1990]

Ein Mann vor seinem Werk. Der französische Dichter Saint-Pol-Roux vor seinem Schloß, seinem Manoir in der Bretagne: acht Türme, zwei Herrschaftshäuser, in der Mitte ein kleines Bauern-haus. Das Ganze errichtet nach den Plänen des weißbärtigen Poeten im schwarzen Umhang. Ein Phantasiegebilde aus Stein: „An ihren Werken sollt ihr sie erkennen." Der Künstler Saint-Pol- Roux hat dieses Erz-Protestantenwort beim Wort genommen:


Werkausgabe Band 3

EDITIONSPLAN

Bd. 1 VOM MAGNIFIZISMUS ZUM IDEOREALISMUS

DIE STATIONEN DER PROZESSION

Bd.2 I. DIE ROSE UND DIE DORNEN AUF DEM WEG

Bd.3 II VON DER TAUBE ZUM RABEN ÜBER DEN PFAU

Bd 4 III DIE ZAUBERSTÜCKE DER PHANTASIE

Bd. 5 DIE DAME MIT
DER SENSE

Bd.6 DIE TRADITIONEN DER ZUKUNFT

Bd.7 DER AUSFLUG

Bd. 8 TABLETTEN

Bd. 9 DIE TRAGIK DES MENSCHEN I und II

Bd. 10 DIE VERKLÄRUNG DES KRIEGES

Bd. 11 DER SCHATZ DES MENSCHEN

Bd. 12 RES POETICA oder DIE REPUBLIK DER POESIE

Bd. 13 IDEOREALITÄTEN

Bd. 14 GESCHWINDIGKEIT

Bd. 15 LEBENDIGES KINO

Bd. 16 BRIEFWECHSEL
SPR / VICTOR SEGALEN


weitere Infos:

LEBENSDATEN 

DER IDEOREALISATOR
SAINT-POL-ROUX -
„Der sanfte Avantgardist“

von Joachim Schultz


Saint-Pol-Roux & Breton
Spuren einer Bekanntschaft
von Rolf A. Burkart

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das einsame Schloß am Meer samt „kosmopolitischer" Inneneinrichtung aus fernen Landen, seine Haustiere, die gezähmten Seevögel Heol, Noriot und Thalassa, seine Kinder mit den klingenden Namen Coecilian, Loredan, Magnus und Divine, seine Aufsätze, Aphorismen und Dramen — alles Steine für einen gigantischen Bau: für das Gesamtkunstwerk Leben. Ein Kunstwerk ganz besonderer Art: Kunstwerke zu schaffen mag schwierig genug sein — Kunst, Werk und Leben als Gesamtes zu vereinen ist ein Projekt, für das acht Türme am Meer bei genauerer Betrachtung eine geradezu bescheidene Ausgangsbasis abgeben. Mehr als dreißig Jahre, von 1905 bis zu seiner Ermordung durch einen deutschen Bäckermeister in Wehrmachtsuniform im Jahre 1940, hat Saint- Pol-Roux in diesem selbsterschaffenen Reich regiert. Der einzige und sein Eigentum, eine Theorie und ihr lebendes Exempel. Vieles blieb dabei auf der Strecke: die literarischen Salons der Hauptstadt, Anerkennung, Ruhm und Geld. Für den Meister war das Sache der Kleinmütigen, der „spöttelnden Zwerge", der „Vermessungsbeamten" mit mathematischem Herzen. Mochten andere wie der Dichter Soupault auf Festbanketten publikums-wirksam am Kronleuchter baumeln, mochten sie wie der Freund Segalen das Leben in der Südsee erforschen oder sich wie der Saint-Pol- Roux-Verehrer Breton durch Manifeste hervortun — dem einsamen Mann in der Bretagne ging es um mehr: Ihm ging es ums Ganze. Und dafür war noch nie ein Preis zu hoch. Für Saint-Pol-Roux besteht dieser Preis genau besehen sogar aus zwei Preisen. Nummer eins: Kaum jemand kennt Saint-Pol-Roux. Weder in Deutschland noch in Frankreich. Sein Werk, in den siebziger Jahren in einem kleinen französischen Provinzverlag neu aufgelegt, wird von der Pariser Intelligenzija weitgehend ignoriert; den fünf unlängst in einem Berliner Kleinverlag erschienenen Bänden einer geplanten sechzehnbändigen Gesamtausgabe ist in Deutschland bisher ähnliches widerfahren. Sein wichtigstes Werk, das Drama „Die Dame mit der Sense", ist bis heute von keinem Theater gespielt worden. Und zu Lebzeiten verdiente sich der Dichter des Absoluten sein Geld in erster Linie als Ghostwnter für den damals populären Erfolgsautor Pierre Decourcelle. Preis Nummer zwei: Der Dichter Saint-Pol- Roux, dem es ums Ganze und die Wahrheit ging, wußte noch nicht, was heutzutage jeder weiß: Das Ganze ist das Unwahre (Achtung, Zitat!) — womit gesagt sein soll, daß Preis Nummer zwei gleichzeitig als der wahre und ganze Grund für die betrüblichen Ausmaße von Preis Nummer eins anzusehen ist. Mit anderen Worten: Der gigantische Mißerfolg des Autors Saint-Pol- Roux scheint eine direkte oder indirekte Folge des gigantischen Anspruchs seines ästhetischen Programms zu sein. Oder? Saint-Pol-Roux war schließlich nicht der erste und nicht der letzte Dichter und Denker, der die Welt über einen einzigen Riesenleisten spannen wollte: Bei Hegel sollte alles im Weltgeist, bei Wagner im Gesamtkunstwerk, bei Mallarme in ein Über-Buch münden; und alle hatten sie — das Unwahre hin oder her — beim Publikum damit Erfolg. Warum also nicht auch Saint-Pol-Roux und sein „ideorealistisches" Vereinigungsprogramm? Ein strategischer Fehler: der Mangel an leserfreundlicher Didaktik und Poesie. Die bisher auf deutsch vorliegenden Bände — von dem Briefwechsel mit egalen und dem Band „Der Ausflug" einmal abgesehen — sind eine Art überdimensionierter Zettelkasten, eine ausufernde Aphorismensammlung zu des Dichters Lieblingsthemen: das Genie, die Einbildungskraft und das Wort. In variantenarmer Wiederkehr umspielt Saint-Pol-Roux in den Bänden „Der Schatz des Menschen", „Die Tradition der Zukunft" und „Res poetica oder die Republik der Poesie" in beschwörenden Tönen den ewig gleichen Grundakkord: die universale Vereinigung. Gemeint ist die Vereinigung von allem, was in der abendländischen Philosophie nur Rang und Namen hat: Materie und Geist, Kunst und Leben, Idee und Form, Gott und Mensch, Wort und Inhalt, Subjekt und Objekt, Besonderes und Allgemeines. Wahrlich kein bescheidenes Programm. In einer kommenden „Republik der Poesie", einem „Zeitalter der Sonne", vom Zukunftskünder Saint-Pol-Roux mit unprofessionellem Leichtmut noch für dieses Jahrhundert fest eingeplant ("ich werde mir nicht erlauben zu verkünden, ich kündige an") sollten die Gegensatzpaare westlichen zur ästhetischen Wiedervereinigung ablesen: Da Denkens nach dem Willen des Dichters in elysischer Eintracht miteinander grasen. Das Ganze ein Wiedervereinigungs-projekt, das — wie heute gang und gäbe — faßlich in nur zehn Punkten referierbar ist. Im Kurztext lautet das Programm: Das Genie (1) hat die Aufgabe, unter Mitwirkung seiner Einbildungskraft (2) dem Absoluten (3) im poetischen Bild (4) die Form (5) zu entreißen, damit Gott (6) und den universellen Rhythmus (7) zu kreieren und das bislng in Fesseln liegende Wort (8) von seiner Schmach als Kommunikationsmittel zu befreien und seiner ursprünglichen Jungfräulichkeit (9) wieder zuzuführen. Das Ergebnis dieser Tätigkeit nennt sich "Ideorealismus" (10), denn es hat eine Idee zur Realität gemacht. So einfach im Kurztext,

Im Langtext liegen die Dinge etwas komplizierter. Im Langtext ist der sogenannte "Ideorealismus" des Saint-Pol-Roux eine besonders radikale Variante der um die Jahrhundertwende hochgehandelten symbolistischen Dichtungstheorien, die allesamt ihren quasi-religiösen Anspruch nie verleugnet, den Dichter als Sprachrohr göttlich-poetischen Geist verklärt — und damit als solchen annulliert haben. Was den wortbesessenen Symbolismus und die Poetik des Saint-Pol-Roux verbindet, läßt sich an den einzelnen Programmpunkten zur ästhetischen Wiedervereinigung ablesen: Da ist zunächst das Genie. Ein "armer Wicht mit Brille ... ohne Kleiderfirlefanz und ohne Frauen von Welt", der dem „Absoluten die Form entreißt", indem er seine „erhabenen Symbole ewiger Poesie" zu Papier bringt. Das Genie ist ein „Arbeiter des Absoluten". Das Genie ist Saint-Pol-Roux (andere Beispiele: Napoleon, Christus, Ludwig XIV., die Pharaonen). Dann das Wort. Das Wort war ursprünglich das „heilige Wort", das schon in der „Urstille" des Weltenanfangs in freier Wildbahn bestand und erst von bösartigen Schreibern domestiziert, mit einer „Zwangsjacke aus Lettern" umgürtet und zu seinem „Niedergang ins Buch" gezwungen wurde. Ein Straftatbestand, aus dem sich in zwanglosem Zwang die eigentliche Aufgabe des Genies ableitet: Befreiung des Wortes, Wiederherstellung des Urzustandes, in dem „das Ergebnis unmittelbar der Stimme folgte", das „Wort sich selbst entfaltete und der Inhalt sofort aus seiner Form hervorspritzte".


Schließlich: die nötige Einbildungskraft. Die Kardinalstugend des Heiligen-Pol-Roux. Sie ist der Trichter, durch den zunächst getrichtert wird, was dann die höheren Weihen der „ideorealistischen" Existenz erhält. Ihr Wahlspruch: „Ich erschaffe, also herrsche ich." Ihr Vorbild: die Kreuzzüge. Ihr Ziel: „Es wird nichts Unbekanntes mehr geben." Ihr Feind: der „spöttelnde Zwerg" und sein Kompagnon, der Harmonieverderber par excellence — die Verschiedenheit. Gegen die Verschiedenheit zieht das Genie zu Werke; erst wenn es alles Unbekannte ins Bekannte überführt hat, ist es im Kokon einer Art Universal-Tautologie vor neuen Eindrücken sicher. Wie im Ausflug, dem inneren Protokoll einer geschwindigkeitsberauschten und ganz dem Rhythmus hingegebenen Autofahrt durch die Bretagne, kann sich der Eingebildete kraft seiner Vorstellung endlich überall selbst entdecken: „vervielfacht in den blank polierten Knöpfen des ersten Polizisten, der die Papiere verlangt". Die Welt als Wort und Vorstellung, oft gewünscht, selten so gelungen.

Und hier genau liegt er, der strategische Fehler. Im bruchlosen Gelingen. Einige Tintenstriche genügen: Schon ist die Außenwelt zur Innenwelt, die Innenwelt zur Außenwelt geworden. Schon wird die Sprache des Menschen wieder zur Sprache überhaupt. Schon herrscht Einklang, Wohlklang, Gleichklang. Ganz wie in jener dunklen Nacht, von der uns ein anderer Absolutheitsfachmann verraten hat, daß in ihr „alle Kühe schwarz sind". Da gibt es nichts zu unterscheiden. Da kann nichts stören und nichts schmerzen. Doch leider hat das Glück wie so oft einen Haken: Man muß dran glauben. Nur wer den unzähligen Imperativen dieser Texte folgt, wer von ihren Heilversprechen nicht amüsiert, sondern affiziert ist — den können sie erlösen.
Soviel zur Theorie. Sehr viel Großtönendes, wenig Genaues. Bleibt abzuwarten, ob des Dichters Dichtung am Ende nicht doch mehr hält als seine Theorie bisher verspricht. Dem „Ausflug", als dem in der deutschen Ausgabe bisher einzigen literarischen Text, sind die gesamtästhetischen Höhenflüge seines Autors immerhin erstaunlich gut bekommen. Wenn einem hier „die Einsicht" nicht mit wortmagischen Formeln, sondern einfach „unter Mitwirkung einer unerwarteten Kuh, eines Pfostens, einer Mauer, eines Menschen, der sterben möchte, in den Kopf fährt", ist man für einen Augenblick versöhnt und ahnt, warum die Surrealisten Saint-Pol-Roux als einen der ihren gefeiert haben.
Elf weitere Bände stehen im Verlag Rolf A. Burkart noch auf dem Programm. Ein Projekt, das sich hinter den Megalomanien des Meisters nicht verstecken muß und vor dessen hohem Mut es dem spöttelnden Zwerg zu schlechter Letzt die Kritikerworte einfach verschlägt.

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